Probleme, Prägung, Prostitution: Die Geschichte einer Sexarbeiterin – Teil I

© Maria Kotylevskaja

In seiner Kolumne "Absolute Giganten" macht Kevin Goonewardena alle zwei Wochen Hamburger Typen und Geschichten erlebbar, die der erste, flüchtige Blick oft nicht erfasst. Eingefangen an Orten, die wir zwar alle kennen, für die wir jedoch nicht den Mut, die Courage oder die Verzweiflung besitzen. "Absolute Giganten" ist der stille Beobachter, der die Geschichten der Stadt und ihrer Menschen findet und zu Papier bringt.

© Kevin Goonewardena

Hamm, Raues Haus. Jessica wartet schon. Ich habe sie vor wenigen Wochen auf dem Berg kennengelernt, als sie gewissermaßen in mich hinein stolperte. Blond, Brille, in einem Maße tätowiert, dass es das Fotografieren später nahezu unmöglich machen wird.

Den Raucherraum des Schnitzelrestaurants am Platz gibt es nicht mehr. In ihrem CL geht es nach Billstedt, wo der Koch krank, die Küche kalt, dafür der Raucherraum noch vorhanden ist. Rundherum, Beton auf Beton, Bonjour Tristesse. Mehr als 100 Möglichkeiten, um dazuzugehören, glücklich zu sein. Kauf dich froh, kauf dich frei. Konsumier, nimm dir mehr, nimm dir mehr, mehr, mehr, mehr. Im Restaurant, eine junge Frau und ein junger Mann, sonst ist der Laden wie leergefegt. Das Personal freut sich schon auf den heute vorgezogenen Feierabend.

© Kevin Goonewardena

Jessica ist eine der Frauen, die ihr Geld mit Sexarbeit verdienen. Nicht von klein auf, und es ist auch nicht so, als habe sie nicht schon einmal etwas anderes gemacht.  1,2 Millionen Freier am Tag, so schätzt das Statistische Bundesamt, nehmen die Dienste von Frauen wie Jessica in Anspruch. Zwischen 2.500 und 4.000 Prostituierte gebe es allein in Hamburg – geschätzt. Die Dunkelziffer ist schwarz wie deine Coca Cola.

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Eine Geschichte aus einer Parallelgesellschaft

Geboren Mitte der 1970er im Speckgürtel der Hansestadt, beginnt für sie schon bald eine unstetige Reise durch die Republik. Heidelberg, Rüdesheim, Hamburg. Gut 35 Mal sei sie umgezogen, mehr als die Hälfte davon mit ihrer Mutter. Mal nur die beiden alleine, mal mit wechselnden Lebensgefährten, am prägendsten die Zeit zusammen mit ihrem Stiefvater Axel. Das Leben? Anstrengend. Anschluss findet sie kaum, sie wird in der Schule gehänselt, ist das Kind, mit dem die anderen Kinder nicht spielen dürfen, ist die Spezielle.

In der ersten Klasse habe man ihr eine gewisse Form von Hochbegabung attestiert, erinnert sie sich dunkel. Rückwärts habe sie gesprochen, könne das heute immer noch. Die Mutter beschreibt sie als zynisch, dominant,  manipulativ – eine Borderline-Persönlichkeit, wie sie selbst. Jessica leidet. Wie sehr, begreift sie erst viel später, nach und nach, Stück für Stück. In ihrer Kindheit ist die Mutter kaum zu Hause, und wenn, dann besoffen. Der Stiefvater, der dieses Kapitel nicht überleben wird, noch weniger.

Beide arbeiteten in der Gastro, er Chefkoch in einem Sterne-Restaurant, sie im Service. Es gab auch Zeiten, da putzte die Mutter nebenbei noch, nachts, nach dem Erstjob und dem Saufen am Mittag. Ist er da, ist er bekifft. Ansonsten ruhig, zurückhaltend, ihn habe man quasi gar nicht bemerkt, sagt sie. Ob er ihr was angetan habe, will ich wissen. Eher ihre Mutter ihm, so Jessica.

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Nacht-und-Nebel-Aktion nach Hamburg

Anfang der 90er, Jessy ist 15. Von einem auf den anderen Moment bricht die Mutter die Zelte in Heidelberg ab, wo die drei zu der Zeit gewohnt haben. Der Auslöser: statt ihrem Mann neben sich im Bett fand sie einige Tage zuvor Flugtickets nach Mexiko zwischen seinen Sachen, vermutete eine Affäre. Sie holt ihre Tochter aus dem Unterricht, mit dem Renault geht es in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Hamburg. Das Ziel: Altona. Die beiden kommen bei einer Freundin der Mutter unter. Jene beginnt postwendend wieder zu arbeiten, Jessy sitzt erneut allein in der Wohnung.

Die große Stadt überfordert den Teenager. So etwas wie eine U-Bahn hatte sie bis dahin nicht gesehen. Nach wenigen Wochen geht es nach Poppenbüttel. Über die Mitwohnzentrale wird eine Wohnung angemietet, Jenny kommt wieder in die Schule. Ihre Mutter und ihr Stiefvater nähern sich wieder an, zu dem Zeitpunkt sind Mutter und Tochter gerade knapp ein Jahr in Hamburg. Beide eröffnen Jessy, nach Rüdesheim (Rhein) zurückkehren zu wollen, in ein Haus in der Altstadt, wenigstens für die Saison.

Jessy kann oder will sich nicht erinnern

Rüdesheim in Rheinland-Pfalz, verschlafen, gebettet in das UNESCO-Weltkulturerbe Oberes Mittelrheintal. Damals wie heute, für immer: Weinberge und -stuben, Fachwerk, Klöster, Burgruinen, Flusskreuzfahrten, Touristen. Die Tochter solle sich das alles mal angucken, aber eigentlich wollen Mutter und der Stiefvater ihr Ding machen – für Jessy ist da kein Platz.

Längst besteht Kontakt zum Jugendamt? Warum, Jessy kann oder will sich nicht erinnern. Sie sei aufmüpfig gewesen, rebellisch, ein Kind in der Pubertät eben. Ein Kind wie die anderen?

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Ihre Mutter und Axel gehen schließlich zurück, Jenny kommt bei einer Pflegefamilie in Hoisbüttel unter. Sie ist eines von fünf Pflegekindern, die Familie hat noch drei leibliche. Der Pflegevater wird sie im Laufe der Zeit misshandeln, ein paar wenige Monate vom Spätsommer 1991 an bis Anfang des Folgejahres. Er schlägt sie, die anderen Pflegekinder, die eigenen.

In Schutz nimmt sie ihn nicht explizit, hier, wie wir so da sitzen im Schnitzelrestaurant. Aber sie entschuldigt ihn. Jessy sagt, er sei überfordert gewesen. Darf man deswegen Kinder schlagen? Die Antwort erübrigt sich. Böse jedenfalls sei sie ihm nicht, weder damals noch heute, sagt sie. Vor nicht allzu langer Zeit habe sie letztmalig wieder mit ihm Kontakt gehabt, auch die Zeit davor immer mal wieder, alle paar Jahre.

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Nicht die einzige schlechte Erfahrung, die Jenny mit Männern in ihrem Leben gemacht hat – ob diese zu ihrem Weg in die Prostitution beitrugen? Vermutlich, sagt sie. Jessy fährt in den Urlaub, das erste Mal alleine, nach Korsika mit Rainbowtours. Wenn sie zurückkomme, so sagt ihre Mutter, würde bei ihrer Pflegefamilie ein Zugticket nach Rüdesheim liegen, so dass sie zu ihrem Geburtstag runterkommen könne.

Aus Frankreich zurückgekommen, liegt kein Ticket für sie bereit. Ihre Mutter meldet sich auch nicht. Ein paar Tage später eröffnet ihr der Pflegevater, dass Axel tot sei – die Kripo Wiesbaden habe angerufen.

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Jessy erzählt weiter, wie sie dann eingeschult wurde. Sie sei nach Winterhude gekommen in die schulische Erziehungshilfe, um ihren erweiterten Hauptschulabschluss zu machen. Ich muss sie unterbrechen, zurückkommen auf den beiläufig von ihr erwähnten Todesfall. Wenn Jenny erzählt, wirkt sie ruhig, gefasst, nahezu teilnahmslos. Emotionen zeigt sie keine. Und doch wirkt sie weder leer noch ist die Situation unangenehm. Vor mir sitzt eine erwachsene Frau, für die Normalität ist, was bei den meisten Menschen in der Form nicht mal in Ansätzen vorkommt. Zeigen wir großartig Emotionen, wenn wir von dem Gewöhnlichen erzählen?

Sie diskutieren, streiten, machen sich Vorwürfe.

Erstochen habe ihre Mutter ihren Stiefvater, sagt Jenny und spricht von Mord. Motiv: Eifersucht. Der Mutter fallen Ungereimtheiten auf, so sei der Stiefvater mit dem Motorrad unterwegs gewesen, habe zwei Helme dabei gehabt. Sei länger nicht nach Hause gekommen. Als die Mutter auf seiner Arbeitsstelle vorbeischaut, habe Sie eine Kollegin auf dem Schoß ihres Lebensgefährten sitzen gesehen, sei ausgerastet.

Eine Aussprache folgte ein paar Tage später. Jessy, zu der Zeit auf Korsika, berichtet aus dem Gerichtsprotokoll. Axel, in der Küche sitzend, in deren kleinem Haus in der malerischen Altstadt Rüdesheims. Mit dem Rücken zur Mutter, die hinter ihm auf und ab läuft. Sie diskutieren, streiten, machen sich Vorwürfe. Jeder kennt das. Nüchtern sei die Mutter gewesen. Tabletten habe sie zwar einige Tage zuvor genommen, so Jenny, aber tatrelevant könnten die nicht mehr gewesen sein.

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Irgendwas habe das Fass zum Überlaufen gebracht, die Mutter greift sich eines der sich schon von Berufs wegen im Haus befindlichen Fleischmesser und sticht es dem Stiefvater in den Rücken, direkt zwischen die Schulterblätter. Ein Mal. Axel rafft sich auf, ungläubig, geschockt, schleppt er sich zur Haustür, öffnet sie, schwankt die Treppe hinab. Er stürzt unten angekommen, bricht in einer der kopfsteingepflasterten Gassen zusammen, wie sie auch an dem Haus vorbeiführen. Axel schafft es, sich wieder aufzurappeln, noch ein paar Schritte zu gehen, bis ihn die Mutter einholt. Zwei Stiche von vorne in die Brust, er sackt erneut zusammen, sie entsorgt das Messer in einem Gulli und setzt sich neben ihn auf die Straße.

Eine alte Frau sei gekommen, habe gefragt: „Warum haben sie das gemacht?“, „Meine Nerven, meine Nerven“, habe die Mutter geantwortet. Es ist wie im Film. Axel sei erst auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben, sagt Jessica. Ihre Mutter habe ihr nie so genau von der Tat erzählt. Das Gerichtsprotokoll kenne sie, Zeitungsartikel. Auch hier zeigt sich wieder: Gesprochen wurde nie, wenn es wichtig oder notwendig war. Aufgearbeitet wurde schon gar nichts. Jessys Mutter bekommt 6 1/2 Jahre, die Anklage lautet auf Mord. Aufgrund eines umfassenden Geständnisses, erzählt Jessy, sei das Urteil so milde ausgefallen.

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Bei der Urteilsverkündung ist die damals gerade 16-Jährige dabei. Während der Haft besucht sie ihre Mutter regelmäßig. Nach dreieinhalb Jahren kommt die Mutter frei. Auch heute haben die beiden Kontakt. Viele der Geschichten, die Jessy selbst noch erleben sollte, tragen sich erst nach diesem Ereignis zu. Eine heftige Sache sei das gewesen, wie sie sagt, keine Frage. Ich frage sie nach ihrem Gefühl, Jessy erwidert, sie habe keine Ahnung, sie wisse es nicht, dann: Sie habe keins. Weder damals gehabt noch heute.

Natürlich habe sie verstanden, was das heißt und was das bedeutet. Und dennoch nicht richtig greifen können. Wie auch, ohne Hilfe, zumal als Teenagerin. Sie hakte ab, verdrängte. Was das mit ihr gemacht habe, will ich wissen. Das könne sie nicht sagen, ohne lügen zu müssen. Sie habe sich die Frage nie gestellt. Vielleicht wurde ihr die Frage auch nie gestellt. Hätte es was genützt? Sie habe alles in negativer Hinsicht erlebt, was man erleben könne. Absolute Ausnahmen für die Meisten, in Jessys Welt Normalität – das stumpft ab.

ihr Leben scheint sie im Griff zu haben – dachte sie damals

Als ihre Mutter inhaftiert wird, beginnt sie Drogen zu nehmen. Erst zu kiffen, dann Heroin zu nehmen. Sie raucht und schnupft es. Ihren erweiterten Hauptschulabschluss, gleichgestellt mit dem Realschulabschluss, macht sie trotzdem. Ein bisschen Speed hier, ein paar Pillen da, wenige Male Koks, eine kurze, heftige Zeit. Jessica ist da 15, 16 Jahre alt. Viel Alkohol habe sie die Jahre darauf getrunken, immer wieder regelrecht gesoffen. Die Suchtanfälligkeit bei Kindern von Suchtkranken ist besonders hoch, wie man weiß.

Irgendwann die erste Psychose, sechs Wochen Klinik. Jessica beginnt Ausbildungen, zwei an der Zahl, erst als Friseuse, dann als Restaurantfachfrau. Die erste lief gar nicht, die zweite besser, endete aber dennoch unglücklich ohne Abschluss. Zu dieser Zeit war sie mit einer Frau zusammen, vier Jahre lang, Jessy war Anfang 20. Wir schreiben Mitte / Ende der 1990er. Nach der Trennung jobbt sie, ihr Leben scheint sie im Griff zu haben – dachte sie damals. Sie lernt den Mann ihrer ältesten Tochter kennen.

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Trennung. Neue Beziehungen, immer wieder auch mit Gewalttätern, Toxikern. Leuten mit gleichen oder ähnlichen Lebensläufen wie ihrem eigenen. Der Mensch bleibt für gewöhnlich unter sich, das ist auch bei unsereinem kaum anders. Sie heiratet, wird erneut schwanger. Zwischendrin: Party-Phasen, gezeichnet vom Alkohol. Auf die Kinder passen Oma oder andere auf. Das war noch normal, sagt Jessy, das sei noch im Rahmen gewesen.

Feiern tut sie zu der Zeit vor allem im Tunnel Club, heute am Ende der Reeperbahn gelegen, damals noch an deren Anfang, wo jetzt die Tanzenden Türme stehen. Sie jobbt, viel in der Gastro, dealt sporadisch, macht 3.000 bis 4.000 Euro am Wochenende mit Speed und Pillen. Buntes Paper. Braun, grün, gelb, lila. Selbst nimmt sie zu der Zeit schon lange keine Drogen mehr, sagt sie. Hin und wieder geht sie anschaffen – davon, dass sie ihren Lebensunterhalt als Prostituierte verdient, ist sie zu der Zeit allerdings noch weit entfernt.

© Maria Kotylevskaja
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