Hamburg, Hoffnung, Heroin: Unterwegs mit einem S-Bahn-Schnorrer

In seiner Kolumne "Absolute Giganten" macht Kevin Goonewardena alle zwei Wochen Hamburger Typen und Geschichten erlebbar, die der erste, flüchtige Blick oft nicht erfasst. Eingefangen an Orten, die wir zwar alle kennen, für die wir jedoch nicht den Mut, die Courage oder die Verzweiflung besitzen. "Absolute Giganten" ist der stille Beobachter, der die Geschichten der Stadt und ihrer Menschen findet und zu Papier bringt.

Es wankt, es schleicht, es spricht dich an. Mal ruhig, oft schief und manchmal schrill. Es hat zwei Beine und es hat zwei Augen und mit denen kann es schauen, doch du, du schaust meist weg - auf dein Handy oder aus dem Fenster, ins Dunkel des Citytunnels als gäbe es dort etwas zu sehen. Doch dann spricht es dich an, das Elend der Gesellschaft, dir so nah wie sonst nirgends.

Wie ein Gedicht, ein Gebet, ein Hilferuf.

Ich treffe Christoph* (41) an der Haltestelle Reeperbahn, halte ihn zuerst nur für einen Pfandflaschensammler. „Mit 14 bin ich das erste Mal mit Drogen in Kontakt gekommen, mit 15 Heroin, mit 18 Kokain. Ich in ein sehr ängstliches Kind gewesen, zurückhaltend. In der Grundschule habe ich übelst gestottert. Ich war ein Einzelgänger.

Die fast drei Jahrzehnte Suchtmittelkonsum sieht man ihm kaum an. Sauber, gepflegt, frisch sieht er aus. Seine letzte Entgiftung sei erst ein paar Tage her, erzählt er mir später. Nur die Augen lügen nicht. Er steigt in die S-Bahn, ich folge ihm. Er spricht seinen Text. Der sitzt - mal kurz, mal lang. Wie ein Gedicht, ein Gebet, ein Hilferuf. Manchmal eine unvermeidliche Lüge. DU würdest alles anders machen als Christoph. Würdest du? Wirklich?! Ich bitte ihn mit mir auszusteigen. Bahnhof Altona nach Geschäftsschluss.

*Name von der Redaktion geändert. Schnorren in der S-Bahn ist gesetzlich verboten.

Erwachsen bin ich im Knast geworden.

Erwachsen bin ich im Knast geworden, habe wichtige Jahre in der Entwicklung eines Menschens in einer großen Haftanstalt in Ostdeutschland verbracht. Von 21 bis 26 saß ich wegen Raubüberfalls ein. Daher stammen auch meine gesamten Tättowierungen die ich am Körper trage. Dass es nicht einfach ist, kannst du dir denken. Das geht nicht spurlos an einem vorbei.

Er habe das Glück gehabt das er gute Jungs kennengelernt habe, schon damals in Untersuchungshaft in Moabit. „Das war glaube ich einfach Sympathie. Die haben mir dann auch gezeigt wie das alles so funktioniert. Als junger Heranwachsender ist es schon eine heftige Erfahrung auf einer Station zu sein, wo Lebenslängliche sind, Sicherungsverwahrte.“ Ob es im Allgemeinen gefährlich ist, will ich wissen. „Es kommt drauf an, wie du dich bewegst.

© Kevin Goonewardena

Aufgewachsen im nördlichen Niedersachsen, ist Christophs Kindheit geprägt von den schwierigen Familienverhältnissen in die er hineingeboren wurde. Überforderte Eltern, Schläge an der Tagesordnung. Dass man Konflikte auch gewaltlos lösen kann, habe er erst später gelernt. „Viele Ärzte sind der Meinung dass nicht mein Suchtmittelkonsum, sondern eine posttraumatische Belastungsstörung das eigentliche Problem ist, die ich mit Drogen betäube.

Christoph verlässt die Schule mit einem Hauptschulabschluss, macht eine Ausbildung und im Anschluss eine Umschulung zum Koch. Er beginnt durch verschiedene Bundesländer zu tingeln, lernt die jeweiligen regionalen Küchen kennen, sammelt Erfahrungen. „ A la Card-Geschäft, Kantine und sowas das war nie meins.“ Noch bis zum Frühjahr diesen Jahres hat er als Koch gearbeitet, zwei Monate, 50, 60 km von Hamburg entfernt im Niedersächsischen.

Den Job verlor er, weil er sich andere Prioritäten setzte, sich um nichts mehr kümmerte, auch um eine Geldstrafe nicht die er zu der Zeit zu zahlen hatte. 600 EUR, aufgestaut für Lappalien, für unsereins kaum eine nennenswerte Summe. Für Menschen wie Christoph kaum zu stemmen. Sozialstunden konnte er nicht nachkommen, ein paar Raten schaffte er wenigstens noch abzubezahlen – als er noch den Job hatte. Irgendwann ging auch das nicht mehr und die Polizei holte ihn im Übergangswohnheim ab. JVA Billwerder, etwas mehr als zwei Monate für täglich sieben Euro Schuldenerlass.

© Kevin Goonewardena

Ups and Downs prägten Christophs Leben schon immer. Die zusätzliche ADHS-Diagnose machte es nicht einfacher. Auch Beziehungen hat er immer wieder, gerade eine On/Off-Beziehung zu einer Frau, die nicht aus den Kreisen stammt in dem sich ein Abhängiger normalerweise bewegt. „Sie ist Frisöse, aber nicht da wo ein Haarschnitt 10 EUR kostet. Tagsüber arbeitet sie dort, wo die oberen Zehntausend hingehen. Steht mit ihren Schühchen auf dem Granitboden und schneidet Haare." erzählt er über die erste On-Phase.

"Sie versuchte mich in der Szene aufzusuchen und sagte ‚Hey Macker, sieh zu das du wieder klare Bilder erkennst. Ich lieb‘ dich, ich brauch‘ dich. Mach was.‘ Das hat sie ständig gemacht, sie hat die Nadel im Heuhaufen immer wieder gefunden. Sie ist einfach eine tolle Frau.“, schließt Christoph mit sichtlicher Bewunderung.

Stolperclean nennt man das.

Als er vor wenigen Monaten einen Rückfall erlitt, trennte sie sich von ihm. „Sie konnte mir das zum damaligen Zeitpunkt nicht verzeihen.“ Kontakt habe man nach wie vor. „Ich bin gerade wieder dabei zu kämpfen. Darum zu kämpfen, dass ich einen Umgang mit meiner Sucht finde. Ich werde sie nie los werden, aber ich kann einen Weg finden mit ihr zu leben.“

Sein Text in der S-Bahn mag einstudiert wirken, seine Antworten auf meine Fragen sind überraschenderweise genauso flüssig, seine Stimme angenehm. Vom Stottern der Kindheit nichts mehr zu hören. Der Inhalt: Selbstrefletiert, ehrlich, authentisch. So erwähnt er seine Sucht, genauso wie die Übergangseinrichtung auch in seinen Ansprachen. Sich selber treu bleiben ohne stehen zu bleiben, dass ist ihm wichtig. Sich selber spüren. In Erinnerung rufen was man geschafft hat, Ziele zu verfolgen, Träume zu haben. Gerade sei er dabei sich um einen WG-Platz zu bewerben, auch von seinen Substitutmitteln sei er zurzeit runter. Stolperclean nennt man das.

Seinem Verlangen, den Schmerz zu betäuben würde er gerne anders entgegentreten, als mit Drogen. Irgendwann wieder einen Job haben, eine Wohnung. „Ich möchte wieder ein abstinentes Leben führen. Ich weiß wie das schmeckt, ich weiß wie ich dahin komme, ich habe die Möglichkeiten mir die Hilfen zu holen. Und ich hoffe das die höhere Kraft mich dabei unterstützt, wenn es mal wieder komplizierter wird.“

© Kevin Goonewardena

15 Euro mache er die Stunde in der S-Bahn, sagt er. Wann er anfange und wie lange er schnorrt, hängt auch immer von seinem Zustand und von den sonstigen Finanzquellen ab, die er hat. „Das ist auch anstrengend, harte Arbeit. Man muss immer wachsam sein, immer konzentriert.“

Auch wegen der DB SicherheitsmitarbeiterInnen. „Viele kennt man schon. Manche erteilen einem nur Platzverbot, andere schreiben einen auf.“ Natürlich würden sie wissen, dass er keine Fahrkarte habe und damit ein leichtes Opfer ist. Ob das unfair sei, dass Leute wie er härter rangenommen werden, als ich, der auch ohne Fahrkarte niemals auf dem Bahnsteig angesprochen werden würde? „So ist das halt. Menschen neigen dazu ihre Position auszunutzen. Jeder macht das. Und wenn man auf der Arbeit einfach nur mehr Stunden aufschreibt und früher geht.“

Auch Beschimpfungen würden dazu gehören. „Wenn mich Leute anmachen, dann vor allem Halbstarke, die sich als was Besseres ansehen – obwohl sie die Füße noch bei Papa unterm Tisch haben. Das kann ich nicht ernst nehmen – verletzten tut mich das aber schon.“ Er weiß, dass die Zeit drängt. „Ich gehe jetzt auf die 42 zu. Natürlich habe ich Zukunftsängste. Ich möchte nicht auf der Straße sterben.“

Denk an dein einfaches Leben, wenn du das nächste Mal einen Schnorrer in der S-Bahn begegnest.

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