Trinken, Tanzen, Trauern: 12 Stunden im Clochard
Beißender Uringestank steigt meine Nase hoch, als ich zwischen Spielhalle und Fast Food-Imbiss die Treppe emporsteige. Ich bin im Clochard, auf der Reeperbahn. „Meine Tochter wird heute 31 und ich bin wieder so breit.“ Wolfgangs Augen sind glasig. Die Knolle umklammernd starrt er traurig ins Leere. Wirr fallen die langen, ungepflegten Haare über seine Schultern. Seine Nase erzählt seine Geschichte. Ich bin keine fünf Minuten abgetaucht hier im ersten Stock, der niemals schläft. 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag, seit mehr als 35 Jahren.
Es ist 9:39 Uhr, der Kiez längst leergefegt. Wenn noch irgendwo was geht, dann in Läden wie dem Chlochard. Kein Dutzend Leute verteilen sich um diese Zeit versprenkelt in dem dunklen Raum, hängen an der Bar, liegen in der Ecke oder spielen Kicker. Das erste Bier oder das letzte der Nacht in der Hand. Wie lange sie hier sind, wie oft? Aus ihren Gesichtern spricht eine Ahnung. Samy, 23, Metallbauer, Mutter Amerikanerin, Vater Afrikaner, geboren hier, hat aber Jahre in Portland gelebt, grüner Iro. „Hamburg ist immer kalt, aber Portland ist noch krasser.“ Er erzählt von den Mädchen, die er dated, vom Bau, von Vorgesetzten, die andere abziehen. Von Schwulen, gegen die er nichts habe, aber einige von denen würden nicht kapieren, dass er Hetero ist – das nerve ihn.
„Die Evolutionstheorie kann nicht stimmen“, befindet hingegen Wolfgang und meint die Relativitätstheorie, denn wir sind bei Einstein. Warum? In Läden wie diesen haben Gespräche keinen Anfang, kein Ende und erst recht kein nachvollziehbaren Verlauf. „Dann die Gedanken sind schneller als das Licht. Meine, deine“, philosophiert er. Seine Augen sind traurig; die Wärme einer hilflosen, gutmütigen Seele umgibt ihn. „Meine Tochter wird heute 31 und ich bin wieder so breit.“ Er kämpft. Wolfgang will, aber er kann schon längst nicht mehr. Seit 30 Jahren habe er nicht mehr gearbeitet, sagt er. Er könne nicht mehr. Industriekaufmann sei er gewesen. „Hätte lieber was Soziales machen sollen.“ Er hadert sichtbar.
Ich ermutige ihn, seine Tochter anzurufen. Wolfgang schämt sich, will erst einmal pennen. Eigentlich wollte er schon längst zu Hause sein. Eigentlich. Später wird er mir erzählen, dass er sie angerufen hat und er glaubt, dass sie sich gefreut habe. Ich wünsche es ihm.
Happy ist auch schon die ganze Zeit da, alleine. Ebenfalls Anfang 20, so schätze ich, unauffälliges Aussehen, unauffällige Kleidung. Was macht so einer wie er hier? Man kennt sich. Er zeigt auf einen Albaner, der auf der Bank liegt. Neben sich eine junge Punkerin aus Mümmelmannsberg. „Aus Richtung Mümmelmannsberg“, korrigiert sie sich beschämt. Seit fünf Jahren sei sie nicht mehr hier gewesen. „Also zum ersten Mal heute wieder?“ „Zum vierten oder fünften Mal“, erwidert sie. Sie sei die Hure des Albaners, er ihr Zuhälter, sagt Happy und deutet zu den beiden auf der Bank Liegenden. Er habe gegen beide nichts, behauptet er – aber? Er weiß es auch nicht.
Immer wieder kommt er mir noch näher als er eh schon steht. Er wirkt nicht bedrohlich und doch bin ich nicht sicher, woran ich bei ihm bin. Ich zeige ihm mein „Niemand muss Bulle Sein“-T-Shirt, er mir seine Narbe am Bauch. Samy meint, er sei angeschossen worden. Alles kann, nichts muss. Ist auch egal. Samy findet, junge Leute müssten arbeiten, Alte ein Jahr frei haben.
Ein paar neue Gäste kommen und gehen, die alten bleiben
Aus der Jukebox läuft das, was sich im schlechtesten Fall nur einer wünscht und in keinem Fall ich mir. Ozzy, Rammstein, Hier kommt Alex. Die Anwesenden überkommen Phasen des Headbangens. Kurz bringt die Musik ihre müden, von allem möglichen sich gegenseitig behinderten Substanzen mehr schlecht als recht wachgehaltenen Körper in Wallung. Draußen scheint die Sonne, Regenschauer machen dem April alle Ehre. Gitter und Netze an der Dachterrasse sollen den Müll von der drunter liegenden Reeperbahn und den anliegenden Dächern fernhalten. Die Bar ist erstaunlich gut bestückt, die Klobrille auch. Ein paar neue Gäste kommen und gehen, die alten bleiben. Manchmal ist ein Hund darunter.
Der Albaner entpuppt sich als Bulgare. Happy und er machen Armdrücken. Happy ohne Shirt, nicht besonders muskelös, aber sehnig. Als ich mich zu ihnen setze, erklären sie mir worauf es beim Armdrücken ankäme. Happy übersetzt, als könne ich nicht verstehen, was der Bulgare sagt. Sein Deutsch ist brüchig, aber passabel. Mein Vorteil seien meine langen Arme, pflichten sie sich gegenseitig bei – bis sie merken, was „ganze Kraft“ bei mir bedeutet. Happy winkt mit einer Geste ab, die bestätigt, was ich schon längst weiß: Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Der Bulgare sieht das nicht so eng, er lacht mich mit seinen schiefen Zähnen an. Seit 20 Jahren würde er das machen. Wie alt er sei ? „23.“ Wahr ist, was wahr ist. Später wird er auf einer Bank schlafen, nur um abends wieder ein paar Bänke weiter zu sitzen, mehr oder weniger aufrecht.
Zeit spielt hier keine Rolle. Fakten auch nicht. Niemand fragt, wer woher kommt, Niemand sagt, wohin er geht. In solchen Läden ist jeder ein König, eine Königin. Irgendwie Bewundernswert, ohne Abstriche. Hier kann man stundenlang sitzen, ungestört beobachten – wenn man will. Aber auch innerhalb von fünf Minuten mit jedem ins Gespräch kommen – oder die Fresse poliert kriegen. Mehrfach werden mir Schläge angedroht, als ich fotografiere.
Hier geht es nicht darum, durch eine No Photo-Politik den Laden selbst zu mystifizieren, auch nicht darum, die gerade im Abistress steckende und noch nicht einmal volljährige Tochter mit Asos-Choker-Halsband und geweiteten Pupillen vor Muttis Instagram-Stalking-Attacken zu schützen. Hier ist alles real.
Draussen prangt die maßgeschneiderte Werbung eines lokalen Softdrinkherstellers. „Auf der Reeperbahn nachts um 15:30 Uhr.“ 356 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag, seit über 35 Jahren – so was spricht sich rum, so etwas wird zu Marke.
Sie tragen Tommy Hilfiger und Lacoste, haben nichts gemein mit dem hier – außer den Alkoholpegel
Der Abend bricht an. Immer mehr offensichtliche Touristen betreten den Clochard. Rucksäcke mit Stadtplänen im Außenfach, ein, zwei Bier. Manche stehen rum, wissen nichts mit dem Laden anzufangen, mit sich, mit der Nacht, mit den Geschichten, die sie nicht schreiben. Tippen in ihr Handy, lassen ihre Jacke nicht aus den Händen. Warten auf ihre Freunde, die sie reingeschleppt haben, in der Hoffnung, die erste Runde würde auch für sie die letzte sein. Tragen Tommy Hilfiger und Lacoste, haben nichts gemein mit dem hier – außer den Alkoholpegel. Füttern die Jukebox mit Die Ärzte, um sich für einen Moment gröhlend in den lauten Dissen mit billigen Shots wähnen zu können, aus denen sie kommen und in die sie gleich wieder kriechen werden.
Neben mir sitzt Dieter, Anfang 40, so schätze ich. Gepflegt, sauber gekleidet. „Ich habe hier mal ein Jahr lang geschlafen, als ich obdachlos war. Nachts kamen die Kakerlaken aus den Ritzen“, sagt er. Zehn Jahre sei das her, vor sechzehn habe er auch mal in Harburg gewohnt, nun wieder auf dieser Elbseite. Jetzt komme er nur noch gelegentlich, trinke vier, fünf Bier. „Zum Glück bin ich nie süchtig gewesen.“ Den Absprung habe er geschafft, arbeiten könne auch er allerdings nicht mehr. „Thailand-Virus“, sagt er. „Als wir Platte machten, haben wir alle zusammengehalten. Bis auf mich hat es aber nur einer geschafft, er hat ein Job bei VW bekommen in … nicht Wolfenbüttel … wie heißt das andere …“ „Wolfsburg?“ „Ja, genau.“ Früher, so sagt er, habe es noch Schmalzbrote am Tresen gegeben, damals, als der alte Wirt noch gelebt habe. Ein Holzschild oberhalb der Theke zeigt die Ausgabe an. „Damit die Leute hier nicht nur saufen.“ Einmal habe er auch eine Kakerlake von den Schmalzbroten weglaufen sehen „Danach habe ich nie mehr eins gegessen“, sagt Dieter.
Der Wirt sei jetzt tot, auch einige der Gestalten um uns herum nähern sich diesem Zustand. Leer, für sich, apathisch, aggressiv, als sei es ein letztes Aufbäumen. Ein Stuhl fliegt - niemand ist beeindruckt.
Irgendwer ruft wegen irgendwas die Bullen. Ein Mann, eine Frau, eine Taschenlampe stehen plötzlich im Laden. Ich gehe. Der Bulgare ist immer noch da, die Punkerin aus Mümmelmannsberg ebenso. Ob sie es mir heute noch gleichtun werden und den Absprung schaffen?