Ein Leben wir eine Achterbahnfahrt: Die Geschichte einer Sexarbeiterin – Teil III
In seiner Kolumne "Absolute Giganten" macht Kevin Goonewardena alle zwei Wochen Hamburger Typen und Geschichten erlebbar, die der erste, flüchtige Blick oft nicht erfasst. Jetzt hat er allerdings eine etwas andere Reihe verfasst und berichtet in seiner dreiteiligen Reihe über das Leben einer Sexarbeiterin. In seinem ersten Teil hat er Jessica vorstellt, wie sie aufgewachsen ist und ihren Weg nach Hamburg. Daraufhin folgte der zweite Teil, der uns Jessica's Arbeit und wie sie dazu kam, näher gebracht hat. Dies ist der letzte Teil.
„Auf der Veddel standen sie eines Tages mit versammelter Mannschaft vor der Tür. Polizei, Zoll, Finanzamt, Jugendamt, die Üblichen halt“, erinnert sich Jessica. „Die haben alles durchwühlt, alles mitgenommen, natürlich auch den PC. Nur meinen Laptop haben sie übersehen. Der lag oben auf der Heizung, für alle zu sehen. Da drunter ein Schließfachschlüssel in dem ich 100.000 EUR aufbewahrte. Ich habe mich dann noch per Mail bei den Beamten bedankt,“ lacht sie. Oktober 2017. Jessica und ich sitzen in der Küche ihres Apartments, irgendwo zwischen Bille, Elbe und Schienensträngen während die Fotografin die Zimmer begeht. „Gar nicht mal so klein hier“, denke ich; für eine Person und Gäste reicht es allemal. Irgendwie auch gemütlich, jedenfalls weder lieblos, noch ranzig und unangenehm hier zu sein ist es auch nicht.
„Wir haben das versucht legal aufzuziehen – so gut es eben ging“
Rückblende, 2008/2009 unterhält Jessica bis zu sechs Wohnungsbordelle: Renovierte Wohnungen in Privathäusern in denen drei, vier, fünf Frauen arbeiten – je nach Zimmeranzahl. Alle südlich der Elbe in den Ausläufern des Bezirks Mitte und Harburg gelegen, ein Haus in der niedersächsischen Peripherie.
Ihr Stammfreier mietet die Objektive an, Jessica zahlt – und schafft selber an. „Markus meinte noch zu mir, dass ich das jetzt alles anmelden müsse. Ich habe dann versucht die Sachen legal aufzuziehen, zum Beispiel die Wohnungen als Massagesalon anzumelden oder Ähnliches. So gut es eben ging. Ich hatte nicht viel Ahnung von diesen Dingen und immer viel um die Ohren.“
Das Apartment auf der Veddel, schon vorher eines in Harburg, wo sich der vermeintliche Besitzer selbst nur als Mieter herausstellt, nach und nach die Anderen: Jessicas schnellem Aufstieg folgt die rasante Talfahrt. Menschen wie sie leben mit dieser Konstante, nicht selten die Einzige im Leben. Das dem Abwärtsgang auch wieder ein Aufstieg folgt, kein Trost, vielmehr eine Verlässlichkeit auf die Jessica gerne verzichten würde „Glaubst du nicht, dass ich nicht lieber tauschen würde, dass es auf Dauer nicht zu anstrengend ist?“, fragt sie mich rhetorisch.
Missbrauch, Sucht, Gewalt, Gefängnisaufenthalten sind stetige Begleiter
Jessica, die nie für andere, sondern immer auf eigene Rechnung gearbeitet hat, die dominant wirkt und so Wünsche ihrer teils devoten Klientel bedienen kann, ohne als Domina, noch als Bizarr-Lady zu arbeiten, hat doch die gleiche Achillesverse wie wir alle, ohne das hier ein verwundbarer Punkt als negativ gewertet werden soll: ihre Gefühle.
Ob neue Bekanntschaften oder alte, zu denen sie oftmals zumindest sporadisch über die Jahre Kontakt hatte, wie zu ihrem Pflegevater oder -geschwistern aus Jugendzeiten, heutigen Freunden, Männern, Liebhabern: Erfahrungen mit Missbrauch, Sucht, Gewalt, Gefängnisaufenthalten sind stetige Begleiter in ihrem Leben, betreffen sie direkt oder ihr Umfeld.
Nichts ist wie wir‘s kennen, nur weil wir‘s kennen, wie wir‘s kennen
Als die Wohnungsbordelle Stück für Stück schließen müssen, sind die Kinder noch bei ihr. Die ältesten im Teenageralter, der Jüngste noch gar nicht geboren. Jessica wohnt mittlerweile in der Eulenspiegelstadt. Die Jahre ziehen ins Land, Geld kommt und Geld geht, genau wie die Männer.
Der letzte Partner, ein Toxiker, Crack abhängig, sie sagt über ihn, dass er es vermutlich nicht mehr schaffen wird. Die Beziehung damals ein Auf und Ab, heute arrangiert man sich. Sie geht ihn schon mal am Drob Inn suchen und bringt ihn zu seiner Mutter, er findet sie in ihrem Erbrochenen auf der Rückbank ihres CLs in der Nacht, als wir uns kennenlernten, zugedröhnt, durch einen mit letzter Kraft abgesendeten Hilferuf per SMS und fährt sie nach Hause. Liebe, Vertrauen, die Notwendigkeit zusammenzuhalten, denn hier ist nichts so wie wir es kennen.
Bis zu dem Zeitpunkt als man ihr den Jüngsten nahm
2016, auch der jüngste Sohn wird ihr weggenommen, kommt in eine Pflegefamilie. Ob das Amt weiß, womit sie ihr Geld verdient, will ich wissen. „Ich glaube nicht, aber vielleicht haben sie es geahnt.“ Es sei nicht der richtige Umgang für ein Kind, habe man ihr mitgeteilt. Auch Drogenmissbrauch wirft man ihr vor. Jessica beteuert, seit Jahren nichts mehr genommen zu haben – bis zu dem Zeitpunkt, als man ihr den Jüngsten nahm. Immer wieder Phasen in denen sie feiern ging habe sie gehabt, ja, auch gesoffen, viel gesoffen, tagelang gesoffen, aber keine harten Drogen genommen, überhaupt keine Drogen – bis zu dem Tag.
Wo St. Pauli am tiefsten ist
Jessica wird alles egal, sie beginnt sich vermehrt dort herum zu treiben, wo St. Pauli am tiefsten ist: auf dem Hamburger Berg. Die alteingesessene Kneipe Zum goldenen Handschuh („Da sind die Kokser“) vermag die die eigene Geschichte und vor allem die Fritz-Honka – Episode, unabhängig voneinander, aber dennoch tatkräftig unterstützt durch Heinz Heinzer Strunk und Studio Braun in Kult und letztendlich Geld umzuwandeln (Honka-Stube, Lokal-Merchandise).
Auf der anderen Straßenseite werden die, die wirklich unten sind, angespült: im Elbschlosskeller („Da sind die Speed-Opfer“), wo es auch heutzutage noch zu Polizeieinsätzen kommt und sich das Kuriositätenkabinett des Kiez die Klinge in die Hand gibt – oder eben nicht, denn hier klebt man am Tresen, statt nach Hause zu gehen. Hausverbot müsse man sich hier verdienen, diktiert der Wirt dem Reporter einer Boulevard-Zeitung ins Notizbuch. Jessica hat es bekommen.
Tagelang unterwegs, die harten Drogen immer dabei. „Einmal bin ich in Berlin gewesen, mit 10.000 EUR in der Tasche. Keine Ahnung, wo das Geld hin ist, nach dem Wochenende war kaum noch was da . Ist aber auch egal“. Dem Absturz folgt ein Entzug, dem Entzug ein Rückfall – eines Abends im September stolpere ich auf dem Berg in sie, da ist sie gerade auf dem Weg zu ihrem CL nachsehen, ob sie einen 500 EUR Schein kleinmachen kann, um sich Koks zu kaufen.
Unsere Wege trennen sich nach einem kurzen Gespräch, ich sollte sie noch im Kasino an der Ecke das Geld wechseln sehen. Am nächsten Morgen wird sie von ihrem Ex auf der Rückbank ihres Wagens abgestürzt, nach Hause gebracht werden – in ein Apartment zwischen Bille und Elbe, die Eulenspiegel Stadt ist längst Vergangenheit.
Beton auf Beton. Als wir uns in einem Schnitzelrestaurant in Billstedt zum ersten Mal für das Interview treffen, scheint sie glaubhaft wieder clean zu sein. Das zweite Mal sitzt sie in ihrem Apartment, die Zitate nimmt sie Wochen später aus einer Wohnung ab, in der sie kurz nach dem ersten Interviewtermin einziehen konnte. „Glaubst du nicht, dass ich nicht lieber tauschen würde, dass es auf Dauer nicht zu anstrengend ist?“. Doch – Mit dem Wissen das es immer wieder bergauf geht, lebt es sich dennoch leichter.