Glaube, Liebe, Hamburg - Risse
Du betrittst den mittleren Aufgang des einst flotten 50er-Jahre-Baus. Ein echter Glücksgriff nach dem Krieg, doch für dich nur ein vergilbtes Polaroid-Bild deiner frühesten Erinnerung. Im dritten Stock ist die Tür aufgegangen – du musst es nicht hören, du weißt es auch so. Eine warme Woge durchflutet dich, als sie dich in die Arme schließt und so fest drückt, als wärst du Jahrhunderte weg gewesen. Sie muss sich strecken und du denkst: Sie ist schon wieder so viel kleiner geworden. Das Gesicht an ihrem Hals riechst du Ringelblumen, Kindheit, Käsekuchen, und stehst in dem zu vollen Zimmer, mit lachenden Gesichtern tapeziert. Du musst nicht erst zählen, um zu wissen, dass deins die meisten Rahmen füllt.
Sie hat Dinge eingekauft, die du immer schon so mochtest. Tust du in Wahrheit lang nicht mehr, trotzdem isst du und du trinkst, um sie bloß nicht zu enttäuschen. Ohnehin bist du zu selten da, du könntest mehr tun, wenn du wolltest. Ja, vielleicht solltest du sogar. Sie ist hier so verdammt allein – fast zwanzig Jahre sind es nun, sie spricht am Telefon von ihm und schnürt dir mühelos die Kehle zu. Dann kriegst du nicht mehr raus als „ach“. Ihre Rente reicht gerade, doch sie legt dir was zurück, wie immer. Hauptsache, du lässt dich bald mal wieder sehen.
Ein abgewetzter Teppich zeugt von festgefahrenen Wegen, ein neuer lohnt nicht mehr, sagt sie. Für Veränderung ist es doch nie zu spät, sagst du, obwohl du weißt, dass es nichts nützt. Sie war schon immer ein harter Brocken. Und dann manchmal, so wie jetzt, verfliegt die Lethargie zwischen zwei Atemzügen. Wenn sie erzählt, wie alles begann, von großer Liebe, kleinen Gesten, er fand sie immer so schön beim Tanz. Dann blitzen ihre blauen Augen so lebendig wie die des hübschen Mädchens mit dem langen dunklen Haar. In die Landwirtschaft hineingeboren, verliebt, verlobt, der Haushalt und die Kinder. Sie flüstert und lacht und redet sich in Rage, während sie türkisch aufgebrühten Kaffee aus deiner Namenstasse trinkt. Du bist für sie so voller Liebe, dass es schmerzt.
Du könntest doch noch den Schrank aufräumen, da unten kommt sie nicht gut ran. Jetzt, wo du schließlich schon mal da bist. Du machst das jedes Mal, doch das sagst du nicht, es macht dir ja nichts aus. Ein Teeservice, ein Wasserkocher, ein kleiner Sack mit Schleife drum. Sie nimmt ihn verschmitzt in ihre Hände mit den schönen Nägeln in rosé. Die sind für dich, für später, sagt sie. Und zieht mit geheimnisvoller Miene zwei winzige Söckchen aus Flausch hervor. Sie strickt jetzt wieder, deinetwegen, und es bricht dir echt das Herz. Dann: wadenlange Tweed-Kostüme, Spitzenblusen, OVP. Du sagst, bald bringst du was zur Sammlung, pack am besten alles ein. Jaja, ein Nicken, noch traut sie sich wohl nicht.
Oh, jetzt juchzt sie, diese Wäsche für den Tisch, wäre die nicht was für dich? Echter Damast, blütenweiß, zur Silberhochzeit aufgedeckt. Aber die kriegen diese Ausländer nicht, nein, die nicht. Die kriegen schon so viel. Sogar ein Handy, weißt du das? Und die sind jetzt überall, die dürfen einfach alle kommen. Und der Dieter, der sagt das auch – sprich den bloß nicht darauf an! Der will die hier auch nicht haben, keiner will das, glaub mir mal. Die Jungen sollen mal alle auf die Straße, da muss mal was passieren jetzt, wo kommen wir denn da noch hin. Ob du dir mal überlegt hast, wer das am Ende alles zahlt? Du musst ganz dringend aus dem Raum.
Sie hat das Land niemals verlassen, kaum mal ihre graue Stadt. Weißt du. Wär das anders, es könnte auch ganz anders sein. Hoffst du und bedeckst mit den Fäusten deine Ohren. Gegen die traurige Dummheit und diese ewige Beklemmung, die so hörbar aus dunklen Anbauwänden kriecht, dass nur die Wanduhren lauter ticken. Und permanent mit Zeigerfingen auf ein ablaufendes Leben deuten.