Nicht so auffällig, bitte: queeres Leben auf dem Land

© Sophie Bichon

Schon während ich die ersten Wörter tippe, zieht sich etwas in mir unangenehm zusammen. Denn wisst ihr, was eine (queere) Kindheit auf dem Land, für mich wohl am meisten bedeutet hat? Einsamkeit und das nagende Gefühl von Scham. Es war eine harte Challenge für mich. Eine, an der ich gewachsen bin. Eine, die mich zwar durch extrem viel Verunsicherung getragen, an deren Ende ich mich selbst aber glücklicherweise lieben konnte.

1000 Einwohner*innen und 1 queeres Herz

Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Tausend-Einwohner*innen-Örtchen in Bayern, im Augsburger Umland. Ein Dorf inmitten von saftigen Wiesen und grünen Hügeln, dem Geruch nach frisch gemähtem Gras und Bauernhof. Es war die absolute Idylle und gleichzeitig der größte Horror, sobald mensch pubertierend in die Stadt kommen musste, um jemanden zu daten, mit dem du nicht auch schon im Kindergarten warst.

Ach, schönes Dorfleben. Damit mensch jemand sein konnte, musste er*sie Mitglied im Schützen- oder Heimatverein, dem CSU Ortsverband oder katholischen Frauenbund sein. Am besten war sowieso alles zusammen. Du warst am Sonntag nicht in der Kirche? Dann musst du eben damit leben, dass ein ganzes Dorf über dich gottloses Ding herzieht. Und mein Vater? Der war "der Ausländer" und ich natürlich das "Ausländerkind". Ich kann gar nicht sagen, wie oft mir die immer selbe Frage gestellt wurde. "Von wem bisch du?"

Ich war halt von niemandem. Ich war ich, Tochter meine Eltern, Schwester meines Bruders. Ich war ich, aber eben ohne Familiengeschichte, ohne einen Familiennamen, der bei knapp tausend Einwohner*innen einen Moment des Wiedererkennens ausgelöst hätte. Keine seit Generationen bewirtschafteten Äcker, kein Familienunternehmen, kein sonst etwas. Das Gefühl der Ausgrenzung war immer da. Es war da, noch bevor mein Herz begriffen hat, wie und welche Menschen es liebt.

Dorfleben ohne Glitzer und Romantik

© Sophie Bichon

Ich habe früh gelernt, dass ich vorsichtig sein muss, was ich sage. Dass in einem so kleinen Dorf kein Geheimnis sicher ist, vor allem wenn mensch sich bei Heidi oder Elke unten an der Hauptstraße die Haare schneiden lässt. Dass im Wirtshaus neben der Kirche, sobald jemand anders war, direkt gemutmaßt und gelästert wurde. Wie an jenem Tag, an dem mensch sich bei Braten und Bier erzählte, der Schwiegersohn der Mesnerin, ausgerechnet einer Kirchenangestellten, sei plötzlich homosexuell geworden. Es ist leider kein Witz, wenn ich sage, dass dem armen Mann das Leben so schwer gemacht wurde, dass er diesem kleinen Kaff so schnell wie möglich den Rücken kehrte. Ich weiß noch, dass ich eine gewisse Verbundenheit zu diesem Menschen spürte, den ich nur vom Sehen kannte. Aber eben auch ein undefinierbares Gefühl von Scham, das ich da noch nicht richtig greifen konnte.

Das exakt selbe Gefühl empfand ich auch bei Tina, dem Nachbarskind. Wir waren beide zehn Jahre alt, haben in ihrem Zimmer gespielt und irgendwann auf ihrem Bett gekuschelt. Es war weich und schön und hat sich gut angefühlt – bis mit einem Mal Tinas Mutter in den Raum stürmte. Ihren Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Ich musste sofort gehen und wusste, dass ich etwas Schlimmes und vor allem Verbotenes getan hatte. Tina und ich durften uns nach diesem Tag nämlich nie wieder sehen, nicht einmal auf der Straße miteinander sprechen. Ich habe mich schrecklich gefühlt und ein paar Jahre später eine gute Freundin auf ähnliche Art und Weise verloren – da war es mein erster Kuss.

Byebye Land und hallo (Groß)stadt!

Ich weiß, dass ich mit meinen Erfahrungen nicht allein bin. Und ich denke, es gehört zu den meisten queeren Biografien, sich früher oder später nach Ausbruch, Freiheit und den Verheißungen der Stadt zu sehnen. Am liebsten natürlich Städte wie Hamburg, Berlin, München oder Köln – queere Hochburgen, wo mensch bedenkenlos gay sein kann.

Ich bin im Grunde meines Herzens eine Stadtpflanze, auch wenn ich mit Feldern, Traktorfahrten und frischen Eiern vom Bauernhof aufgewachsen bin. Mit 17 Jahren ging es für mich endlich in die Stadt, auf nach Augsburg, um mich selbst und das Leben entdecken zu lernen. Dort war es für mich so viel leichter, andere offen queere Menschen kennenzulernen. Mehr Kulturangebot, mehr Möglichkeiten, mehr Entfaltung. Es gab queere Treffpunkte, Partys und Stammtische. Eine vollkommen neue und funkelnde Welt! #Hamburg ist für mich natürlich noch einmal eine ganz andere Erfahrung. Hier kann ich auf eine Art ungehemmt sein, die vorher nicht möglich war. Hier kann ich noch mehr Ich sein. Meine Freund*innen sind so verschieden, bunt und divers. Wir haben ähnliche Sichtweisen und doch wird mein Horizont stets erweitert. Ich liebe es, wie Sex-positiv die Partys im Südpol sind. Dass ich dort beim Queerpol halbnackt tanzen und mich stark und selbstbewusst fühlen kann, ohne bewertet oder ungefragt angefasst zu werden. Ich liebe es, dass Drag hier viel Raum bekommt, es im Kampnagel immer wieder queere Specials gibt und Fuck Yeah ein so großartiger, inklusiver, Sex-positiver, queerer Sexshop ist.

Ich bin im Grunde meines Herzens eine Stadtpflanze, auch wenn ich mit Feldern, Traktorfahrten und frischen Eiern vom Bauernhof aufgewachsen bin.
Sophie Bichon

Eine Frage der Repräsentation

Ich bin angekommen. Ich bin längst keine Fremde mehr, kein Ausländerkind, kein Paradiesvogel und kein Queeirdo – bloß eine Person voller Besonderheiten, wie wir alle sie in uns tragen. Aber ganz ehrlich? Nicht jede queere Person möchte das Landleben hinter sich lassen. Ruhe gegen Lärm und Grün gegen Beton tauschen. Es gibt Queers, die sich zu bleiben wünschen. Aber dann muss mensch sich eben auch die Frage stellen, wie wichtig das Ausleben ist und ob es möglich sein kann, eine Gemeinschaft zu finden oder gründen.

Es ist eigentlich wie bei allen Dingen im Leben: Das Unbekannte macht den Menschen Angst. Und das heißt nicht unbedingt, dass alles und jede*r zwangsläufig ein Feindbild werden muss, aber passieren kann das schnell. Der einzige Weg ist und bleibt also Sichtbarkeit. Wie sehr habe ich mich früher nach einem positiven, queeren Vorbild gesehnt. Oder entsprechenden Büchern in der Dorfbücherei. Oder, oder, oder.

Ich wünsche mir sehr, dass wir irgendwann Strukturen schaffen können, die Repräsentation an ALLEN Orten schafft.

Loud and Proud

Wollen wir uns bis dahin ein Versprechen geben? Lasst uns die Veränderung sein, die wir uns auf dieser Welt so dringend wünschen. Lasst uns voller Selbstbewusstsein durch das Leben schreiten, loud and proud sein. Egal ob es nun um Queerfeindlichkeit, Rassismus oder Sexismus geht. Je mehr wir sind, je lauter, je sichtbarer, je bunter, desto weniger werden wir übersehen. Desto schlechter lässt sich unsere Existenz leugnen. Und desto unwahrscheinlicher ist es, dass wir wieder die Fremden sind.

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