Eisbäder, Hormone und gut gemeinte Tipps: Wie es wirklich ist, mit chronischer Migräne zu leben

© Lisa Greis

Am liebsten würde ich mir mein linkes Auge samt Hirnfetzen mit einer Gabel herausziehen. Einfach so, mit einem Ruck. Das ist schon seit ich 13 bin meine geheime Migräne-Fantasie. Zwanzig Jahre nach meiner ersten Attacke mache ich aktuell die gleiche Scheiße durch, wie als Teenie. Nur machen 20 Jahre chronische Schmerzen auch müde und ziemlich gereizt. Das ist jetzt schon Tag drei. Meistens wird der vierte besser. Muss er auch, sonst kommt wirklich bald die Gabel zum Einsatz.

Irgendwie ist eine Konstante im Leben zu haben doch auch etwas Schönes, wie ein Stern, nach dem man sein Leben ausrichten kann. Meine Migräne begleitet mich länger als jede Beziehung. Weiter noch, ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie nicht vielleicht einer der Trennungsgründe gewesen sein mag. Vielleicht war sie eifersüchtig auf meinen Ex-Freund, der doch tatsächlich versuchte, sie mir ein für alle Mal auszutreiben. Doch unser Bund war stärker. Also blieb sie. Martyna und ihre Migräne – ein Albtraum-Team.

Was ebenso seit jeher bleibt, sind durchaus gut gemeinte Tipps aus dem Freundeskreis, mir doch "mehr Ruhe zu gönnen", "mich gesünder zu ernähren" und es doch vielleicht mal "mit Meditation zu versuchen". Und auch die Hacks aus dem Internet, heute von TikTok, sind dieselben geblieben. Nur helfen tut leider nichts davon. Prophylaktisch kann das sicher alles nicht schaden, obwohl doch: die im Überfluss präsenten Chiropraktiker*innen und andere vermeintliche "Spezialist*innen", die Linderung versprechen, mit ihren "Tipps" jedoch nur noch mehr Schaden anrichten.

Volkskrankheit Migräne und alle sind Expert*innen

Wenn ich so darüber nachdenke, ist es fast unglaublich, dass mich der chronische  Schmerz einer Migräne nun seit so langer Zeit immer wieder lahmlegt. Unglaublich nicht wegen der Schmerzen. Wir Menschen  und sorry, vor allem wir Frauen) sind dahingehend echt ganz schön resilient. Es ist nur so schwer zu begreifen, weil ich dennoch alles erreicht habe, was ich wollte. Studium, Volontariat, Reisen, die erste eigene Wohnung, die erste gemeinsame, die erste Trennung. Alles, was man sich so wünscht, mit 20 und Anfang 30.

Aber wie ich das geschafft habe, weiß ich die meiste Zeit auch nicht wirklich. Denn eine Migräne-Attacke lähmt mich förmlich. Wenn die Episode wieder kommt, kann ich nicht "nebenbei" produktiv sein, ein paar E-Mails beantworten oder die Wäsche zusammenlegen. Gerade so einen Podcast zu hören geht, während ich im schwarzen Zimmer, auf einem speziellen und schweineteurem Migräne-Kissen liege, mit extra Migräne-Maske auf den Augen. Selbst das aber auch nur, wenn die Stimme mich auditiv nicht nervt, oder noch schlimmer, triggert. Schlecht sowas, besonders in einer Leistungsgesellschaft wie Deutschland. Vor allem schlecht, wenn diese dreitägigen Episoden, wie im letzten halben Jahr, immer häufiger werden und kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist. Geht das nun für immer so weiter? Ne, oder?

Einfach weil es besser ist, als der aktuelle Ist-Zustand, in dem ich täglich Angst davor habe, diesen stechenden Schmerz hinter meinem linken Auge zu spüren und zu wissen, dass mein Tag im Eimer ist.

Migräne ist nicht gleichzusetzen mit Kopfschmerzen!

Der dunkle Raum fühlt sich super an. Vielleicht hole ich mir noch eine große Schüssel aus der Küche und fülle sie mit Eiswasser. Denn lange bevor die #Icebucketchallenge als Spendenaufruf bei Instagram für von ALS-Betroffene zum Trend wurde, und lange bevor Bella Hadids Skincare-Routine dafür sorgte, dass Millionen von Teenies ihren Kopf in kaltes, klares Wasser tunkten, war die bei Migräne äußerst hilfreiche Taktik bereits fester Bestandteil meines Alltags nach der Schule. Noch bevor ich Hausaufgaben machte, beziehungsweise eher, weil ich sie sonst nicht machen konnte, tauchte ich mein Gesicht ins Eis. Sorgen soll das auf natürliche Weise dafür, dass sich die Blutgefäße im Kopf zusammenziehen. Aber weg geht auch vom Eisbaden nichts.

x

Migräne ist eine interessante Krankheit. Keine*r weiß, wovon sie wirklich ausgelöst wird. Es soll wohl unterschiedliche Trigger geben. Grundsätzlich kommt der Schmerz daher, weil der Druck im Kopf zu hoch ist. Betitelt wird die Migräne fälschlicherweise als Frauenkrankheit und in Filmen dient sie faulen Texter*innen gern als "Ausrede", wenn die Hausfrau keine Lust hat, mit ihrem Ehemann zu schlafen. Gefühlt hat jede*r eine Meinung zur Volkskrankheit, die Schätzungen zufolge 18 Millionen Deutsche betrifft, doch keine davon ist relevant und noch weniger davon sind korrekt.

"Hast du Kopfweh?" Wie oft ich das gefragt werde. Migräne ist nicht gleichzusetzen mit Kopfschmerzen. Bitte notieren und merken und die, wenn auch gut gemeinten Tipps zur Linderung, unbedingt lassen! Vertraut mir, es gibt nichts, das mit Migräne in Verbindung gebracht wurde, was ich noch nicht probiert habe: Akupunktur, Sport, fettarme Ernährung, fettreiche Ernährung, Yoga, Ausdauertraining, Globuli, Schwimmen, Floating, Eisbaden, fünf Liter Wasser trinken, nur Cola trinken, Anti-Epilepsie-Medikamente, Betablocker, dieser Tee, jene Pflanze.

Migräne und Endometriose: Zwei "Frauenkrankheiten" ohne Heilungschance?

Triptane, das ist, was bei den meisten Betroffenen hilft, wenn die Migräne bereits da ist. Danach darf man aber nicht mal mehr Autofahren, so doll schallern die gefäßverengenden, entzündungshemmenden und schmerzlindernden Arzneimittel einen aus dem Leben. Nicht, dass man das danach noch tun wollen würde. Meint ihr nicht, wenn ich meine Clusterkopfschmerzen wegmeditieren könnte, würde ich das längst tun? Leider machen mich die beschissenen Tabletten jedoch so müde, dass ich am vierten Tag der Attacke so alle bin, dass ich mir kaum ein Brot schmieren kann. Beim Meditieren würde ich wahrscheinlich vor Erschöpfung einfach umfallen.

Das Einzige, was mir persönlich prophylaktisch wirklich hilft, ist ein konstant hoher Östrogenspiegel. Und auf den hatte ich keinen Bock mehr und setzte meine Pille, die ich fast 15 Jahre lang durchgenommen habe, während der ersten Corona-Welle endlich ab. Weil ich dachte: "Hey, hör' wieder mehr auf deinen Körper." Und: "Hey, vielleicht hat sich dein Hormonhaushalt ja von selbst reguliert." Sowie: "Hey, du willst doch auch mal wieder deine Regelblutung bekommen und dich als Frau spüren." Tja, und jetzt stehe ich genau da, wo ich angefangen hatte und überlege ernsthaft, wieder täglich diese ach so ätzenden Hormone in mich reinzufressen. Einfach, weil es besser ist, als der aktuelle Ist-Zustand, in dem ich täglich Angst davor habe, diesen stechenden Schmerz hinter meinem linken Auge zu spüren und zu wissen, dass mein Tag im Eimer ist.

In ein paar Wochen habe ich einen Termin beim Frauenarzt und werde mit ihm meine Möglichkeiten durchsprechen. Mein Neurologe liest sich gerade in das Thema "Botox bei Migräne" rein und laut einer neuen Studie soll Ketamin als Nasenspray helfen. Bis dahin tunke ich meinen Kopf weiter ins Eisbad, weil ich nicht schon wieder Tabletten nehmen will und warte darauf, bis es hoffentlich bald eine Heilung gibt. Wir fliegen zum Mars, verdammt noch mal, aber eine Krankheit, die sicher einen ganzen Haufen mehr Menschen betrifft, als was auf dem Roten Planeten so geht, ist bis heute beinahe unerforscht. Mag daran liegen, dass überproportional viele Frauen daran leiden – fragt nur mal die armen Endometriosepatientinnen!

Noch mehr zum Thema

Hamburg hakt nach: Wieso darf man als Frau nicht in die Herbertstraße?
Kennt ihr den wahren Grund, wieso die Herbertstraße nur für Männer zugänglich ist? In dieser Folge von Hamburg hakt nach gehen wir dem mal auf den Grund.
Weiterlesen
Warum ich 2023 für niemanden mehr einen BH tragen muss
Unsere Autorin verrät, wieso sie es leid ist, sich als Frau für ihre Brüste schämen zu müssen und emanzipiert sich in diesem Text förmlich von ihrem BH.
Weiterlesen
Zurück zur Startseite