Ist Monogamie noch zeitgemäß? Oder auch: (M)ein Weg in die Polyamorie
Meine Kindheit bestand aus Disney-Filmen und den ganz großen Gefühlen. Ich hielt den Atem an, wenn Arielle einem Kuss von Prinz Eric entgegenfieberte. Ich war aufgeregt, wann immer Dornröschen aus ihrem Schlaf erweckt oder Cinderella endlich Prinzessin wurde. Eine Frau wird von einem Mann erst gerettet, dann geliebt. Das habe ich in diesem Universum genauso gelernt wie das "Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute". Ich habe verinnerlicht, dass nichts über echte Romantik geht und zwei Menschen für den Rest ihres Lebens zusammen bleiben. Aber ist diese Vorstellung wirklich noch zeitgemäß?
Die Erfindung der Romantik
Eigentlich müssen wir noch ein Stück weiter zurückspulen, denn die romantische Liebe, wie wir sie heute kennen, ist eigentlich eine Erfindung des auslaufenden 18. Jahrhunderts. Da kam zum ersten Mal der Gedanke auf, dass statt Pflicht ja gegenseitige Zuneigung die Grundlage für eine Ehe bilden könnte. Plötzlich wurde die romantische Liebe zum Ausweg aus einem System, in dem bis jetzt ausschließlich Geburt und Stand die eigene Zukunft bestimmt hatten. Und doch stelle ich mir den Druck immens vor. Liebe ist schließlich nichts, das man auf Knopfdruck an- oder abschalten könnte. Und ich denke, die Sache mit dem Druck (von sich selbst und anderen), mit enttäuschten Erwartungen und der Idealisierung einer Beziehung als einziges Lebensglück ist in Teilen bis heute geblieben.
Eine Frau wird von einem Mann erst gerettet, dann geliebt. Das habe ich in diesem Universum genauso gelernt wie das "Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute".
Inzwischen wird jede dritte Ehe geschieden. Rund dreißig Prozent der in einer Beziehung lebenden Menschen sind schon einmal fremdgegangen. Das sind harte Zahlen, vielleicht auch eine ebenso harte Wahrheit. Trotzdem schwebt die Monogamie – damals wie heute – als großes, alles überschattende Idealbild über allem. Und wäre wirklich jede*r glücklich mit diesem Modell, dann würden Personen sich zwar immer noch scheiden lassen, Beziehungen beenden und vielleicht auch einen Seitensprung wagen, aber die Zahlen sähen vielleicht dennoch anders aus.
Als ich das alles zum ersten Mal so richtig infrage gestellt habe, war ich neunzehn Jahre alt, schwer verliebt, vor allem aber verzweifelt. Denn abseits jedes Disney-Traums hatte ich auf einen Schlag Gefühle für zwei Menschen.
Bye bye Monogamie!
"Ich habe mich in Melina* verliebt." Meine Worte waren wie ein Pflaster, das man am besten in einem festen Ruck abzieht, damit es erst gar nicht richtig wehtun kann. Wie sollte ich etwas auf die richtige Art aussprechen, das zu diesem Zeitpunkt nur das Ende unserer Beziehung bedeuten konnte? Und was war überhaupt die richtige Art? Ich weiß noch, wie mir unter Samuels* Blick immer übler wurde. Ich wollte ihn doch gar nicht verletzen und noch weniger die ganzen Schmetterlinge im Bauch, die in Melinas* Gegenwart immer heftiger wurden. "Es tut mir leid", sagte ich immer wieder. "Es tut mir so leid." Ich war komplett neben der Spur, hatte die Nächte damit zugebracht mir zu überlegen, welcher dieser beiden Menschen denn nun der Richtige für mich wäre. Melina*, mit sich alles aufregend und wild anfühlte? Oder Samuel, der seit drei Jahren mein fester Freund war? Egal wie sehr ich die Sache auch drehte und wendete: Ich sah in Melina und Samuel einfach zwei tolle Menschen mit Stärken und Schwächen, die mich beide auf ihre Art und Weise ergänzten. Durch mein Geständnis gleich beide zu verlieren, war in diesem Moment die allerschlimmste Vorstellung. Samuel und ich redeten und redeten. Und wie durch ein Wunder geschah etwas, mit dem ich nie gerechnet hätte. Er schenkte mir ein Lächeln, zumindest ein Halbes, ein Kleines. Er sagte, er wolle Melina kennenlernen.
(M)ein Leben als polyamore Entdeckerin
Knapp ein Jahr lang lebten Samuel, Melina und ich in einer Triade. Die beiden mochten sich, verliebt waren sie aber nie. Und trotzdem hingen wir drei fest zusammen. Es war eine aufregende Zeit. Ich spürte, dass Liebe sich verdoppelt, wenn man sie teilt. Tausend Glücksgefühle, aber auch Schmerz und Sich-Gegenseitig-Verletzen. Keine*r von uns kannte andere polyamoröse Menschen oder irgendeine Art von Repräsentation, und so mussten wir selbst Grenzen austesten und herausfinden, wie wir diese Beziehung(en) führen wollten.
Trotzdem schwebt die Monogamie – damals wie heute – als großes, alles überschattende Idealbild über allem.
War es in Ordnung, wenn ich eine*n der beiden küsste, wenn die*der andere anwesend war? Mit wem würde ich Weihnachten verbringen? Meinen Geburtstag? Wie die Wochenenden zwischen unseren Wohnorten aufteilen? Wie mit den Beziehung(en) vor Familie und Freund*innen auftreten? Auch wenn die Beziehung(en) mit Melina und Samuel auf Dauer nicht funktionierten, habe ich eine ganze Menge für mein L(i)eben gelernt. Dass es bei Eifersucht meist nur um Unsicherheit und das eigene Ego geht. Dass Liebe keine begrenzte Ressource ist und Menschen vor allem dann bleiben, wenn man sie fliegen lässt. Ich habe gemerkt, wie viele Probleme sich mit absoluter Ehrlichkeit und guter Kommunikation lösen lassen. Ich habe gesehen, wie viele Abenteuer das Leben einem bietet, wenn man das tut, was sich richtig anfühlte, und nicht, was andere erwarten.
Melina und Samuel markierten den Beginn meiner ganz persönlichen Entdeckungsreise. Befreit von dem Gedanken der Monogamie als einzige Möglichkeit erkundete ich nach ihnen Menschen und Beziehungen. Ich lebte offene und geschlossene Polyamorie, probierte mich mit sexuellen Arrangements aus und führte eine offene Beziehung. Ich habe geliebt, geweint, mich durch Liebeskummer gequält und neu verschossen. Und ich habe auf schönste Art Frieden geschlossen mit meinem Herzen, das sich ständig Hals über Kopf verliebt.
Und Monogamie? Ist die jetzt am Ende?
Ich würde sagen: Nein. Monogamie hält sicher nicht all ihre Versprechen von Romantik, großer Liebe und dem gemeinsamen Für-Immer, aber falsch ist sie deswegen noch lange nicht. Ob monogam, polyamor oder irgendetwas dazwischen – am Ende zählt doch nur, dass wir uns gesehen fühlen, dass wir auf Augenhöhe lieben, dass wir glücklich in unseren Beziehungen sind. Das ist also kein Abschied von der Monogamie, sondern ein liebevolles Öffnen für andere Optionen, fürs Ausprobieren. Dafür, andere einfach machen zu lassen. Ein einzelnes Konzept passt eben nicht für jede*n.
Liebt einfach, wen und wie ihr wollt. Liebt eine*n oder viele, denn eines ist ganz sicher: in der Liebe gibt es kein richtig oder falsch.
*Namen wurden geändert.