Wie die Saufsupermärkte den Kiez töten

Die Reeperbahn hat schon einiges überlebt. Den Angriff der Kioske aber, glauben Betroffene, könnte tödlich enden. Gut 50 Saufsupermärkte stehlen der Gastronomie ringsum bereits Umsatz – und gefährden das Amüsierviertel mehr als einst Zuhälterkriege und Eventkultur.

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© Florian Schleinig

Vorm Kiosk saufen, im Club feiern

Mischkalkulation? An einem Ort wie diesem klingt das nach Elfenbeinturm. „Hier zahlen wir zehn Euro für ‘ne Flasche“, sagt der kurzgeschorene Mischkalkulierer und zeigt zum Silbersack nebenan. Dort kosten 2cl Wodka ein Viertel vom Buddelpreis im Kiosk hinter sich – und das Glas Cola weniger als der Liter. „Wir wolln aufn Hamburger Berg“, erklärt sein Kumpel am Stehtisch und hebt den Plastebecher, „ohne Vorglühen wird das zu teuer.“

Vorm Kiosk saufen, im Club feiern, kurzer Tankstopp und wieder rein: was dem Party-Trio beim Kiezbummel Kosten spart, verdirbt ihren Gastgebern das Geschäft. Zumindest jenen mit Schankgenehmigung, Personal und Entertainment statt nur 200 Drinks in der Kühlschrankwand. „Ich schicke meine vier Mitarbeiter zur Brandschutzübung“, klagt Julia Staron im Kukuun am Spielbudenplatz gegenüber vom supermarktgroßen Mischkalkulierversorger Shop Reloaded, wo flaschenweise Fusel den Gegenwert eines Biers im benachbarten Lehmitz kostet, „und drüben arbeitet offiziell nur der Besitzer und pfeift aufs Ordnungsrecht“. Hygiene, Lizenz, Arbeitsrecht? „Pfff…“

© Jan Freitag

Bliebe das der Einzelfall, die Quartiersmanagerin wäre weniger zornig. Dummerweise ist er zur Regel geworden. Fünf Kioske am Berg, sechs in der Seilerstraße, sieben bei der Davidwache. Zwischen Grüner Jäger, Nobistor, Wohngegend und Hafen gibt es mittlerweile 51, Tendenz steigend. Und jeder einzelne, so Staron, „raubt uns die Lebensgrundlage.“ Woche für Woche, Nacht für Nacht, 24/7, sagt sie neudeutsch für „rund um die Uhr“, wie man das nannte, als St. Pauli noch irgendwie, nun ja, beseelter war.

Wobei früher wenig war, schon gar nicht hier. Luden hatten heißere Autos, aber ebenso schlechte Manieren, Bier gab‘s für 1 Mark, aber nach dem achten so schnell aufs Maul wie jetzt, Glanz kam aus Birnen statt LED-Wänden, doch davor ging‘s selten warmherzig zu. Gut, Beatschuppen und Seeleute haben die Reeperbahn einst romantischer, bunter, freier gemacht. Die Fäuste saßen dennoch schon vor 50 Jahren so locker wie manch Messer. Doch dann kam Aids, und weil Aids beim Kaufsex stört, kam Koks, und Koks, sagen Kenner, hat den Kiez radikalisiert, weil es aus dem Brennpunkt mit Rotlicht Anfang der Achtziger ein Schlachtfeld im Blaulicht machte und aus Schlägen Schüsse.

Wie Aids ist Koks aus der Wahrnehmung verschwunden, aber der nächste Totengräber klingt erschreckend ähnlich: Kiosk.
Jan Freitag

Wie Aids ist Koks aus der Wahrnehmung verschwunden, aber der nächste Totengräber klingt erschreckend ähnlich: Kiosk. Seine fünf Buchstaben stehen für alles, was kreative Kultur zerstört: Kommerz, Ignoranz, Opportunismus, Sinnentleerung, Kurzsichtigkeit. „St. Pauli droht kaputtzugehen“, sagte Falko Droßmann kurz nach Antritt als Bezirksamtschef Mitte im Angesicht all der „Pseudo-Kneipen mit Tischen, Bänken, Musikboxen vor der Tür“ und setzte sich mit Kioskbetreibern und Vermietern, Behörden und Fraktionen, Aktivisten und Journalisten zusammen. Ein Ortstermin aller Betroffenen nennt Heiner Schote von der Handelskammer zwar „spannend“, bittet aber um Geduld: „Eine Positionierung dürfte noch etwas dauern.“

Auch darum will Kultursenator Carsten Brosda „unerlaubten Alkoholausschank mit den Mitteln des Ordnungsrechts konsequent geahndet sehen“. Etwa wenn es ums notorische Cornern geht. Seit das Partyvolk Hot Spots von Ottensen bis zur Schanze flutet, sobald die Luft am Kiosk lau wird, gilt der Kiez als lärmumtoster Krisenherd. Problem erkannt, Problem gebannt? Mitnichten! In Hamburg, Hot Spot aller Pfeffersäcke, ist die Gewerbefreiheit heilig. Kioske macht das kaum angreifbar. Zumal es den Begriff formal nicht gibt. Bezirksamtssprecherin Sorina Weiland bietet „erlaubnisfreie oder erlaubnispflichtige Gaststättenbetriebe in einem Einzelhandelsgeschäft“ an. Doch was wann von wem verkauft wird, ist einzelfallabhängig, Verhandlungssache, schwer kontrollierbar. Besonders in St. Pauli, wo das Ordnungsamt auch ohne Kiosk-Checks selten unter Arbeitsmangel leidet.

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Der Teufelskreis fordert die ersten Opfer

Seit der kapitalfreudige CDU-Senat den Ladenschluss gelockert hat, dürfen St. Paulis Kioske sonn- wie feiertags gegen Gebühr Alk verhökern. Folge der „Reeperbahn-Regelung“: immer mehr immer größere immer grellere immer lautere Neoninfernos mit Namen wie „Kiez Corner“ bis „Top Kauf“. Für wahre Wirte ein Teufelskreis. Zuletzt fiel ihm die Hasenschaukel zum Opfer. Flankiert von drei „Spätis“, wie Trinkhallen in Berlin heißen, deckte der (sinkende) Umsatz kaum die (steigende) Miete. Nun serviert dort ein Mad Hatter Hipster-Gin zu Glaspreisen, für die sich das Stehtisch-Trio vier Läden weiter komabesaufen kann und damit das ganze Kiez-Dilemma aufzeigt: eine Krähe hackt der nächsten die Augen aus, bis alle blind sind für eine Zukunft aus Junggesell*innenabschieden und Kettengastronomie. „St. Pauli steht gerne auf wie Phoenix aus der Asche“, glaubt Julia Staron, „aber diese ist langsam zu tief“.

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