Können wir bitte aufhören zu Cornern?
Da sitzen wir, auf dem Gehweg vor dem Kiosk, das Dosenbier aufgeheizt und durchgeschüttelt, hinter mir schiebt sich ein Fixiebike-Besitzer durch, dessen Pedale sich in meinem Pullover verhaken, auf der anderen Straßenseite splittern Flaschen, als ein Auto darüber fährt, es ist laut, es stinkt, es ist ungemütlich. Wir cornen.
Wie Planlosigkeit zum Trend wird
Seine Abende vor einem Kiosk zu verbringen hat nicht überall so Kultur wie in Berlin und Hamburg. Einerseits fehlen dazu in einigen Städten die Kioske, die dazu einladen (genauer gesagt in München, Stuttgart, Freiburg, alles, was Süddeutsch ist und ein Alkoholverbot nach 22 Uhr hat), andererseits ist es in diesen Städten eher üblich, die lauen Sommernächte in Biergärten zu verbringen.
Hier in Hamburg ist das anders. Zuerst schien mir die Idee ein Gewinn für alle zu sein: Nach Feierabend ein Bierchen am Kiosk zischen, die ein oder andere Zigarette zu qualmen und mit jedem Bekannten, der zufällig vorbeistreunert einen kurzen Schnack zu halten. Das hat was von Paris, Rom oder Neapel, wo das Leben hauptsächlich auf der Straße stattfindet und man vor 0 Uhr nicht auf die Idee kommt, sich in das Innere einer Bar zu begeben, weil es einfach zu heiß ist.
Begeistert von diesem Phänomen cornerte ich also, was das Zeug hielt. Unter der Woche nicht so lange wie am Wochenende, aber so ein Abend am Kiosk schien mir definitiv DAS Ding zu sein. Auch wenn ich mit krummem Rücken, blauen Flecken oder einem schlechten Gewissen nach Hause kam, weil ich 15 Mal in der Bar nebenan pinkeln war, dort aber kein einziges Bier gekauft habe.
Wer nicht dazu lernt, lernt nichts
Aber schon während ich dem Cornern-Hype erlag, regte sich in meinem Hinterkopf ein Gefühl, dass ich nicht ganz einordnen konnte. Auf der Jacke an einer Straße zu sitzen und das eigene Wort nicht verstehen können, weil hunderte andere Menschen um mich herum brüllen, singen und Musik laufen lassen – das kann irgendwie nicht alles gewesen sein. Wir veröffentlichen trotzdem 11 gute Orte zum Cornern.
Ein Jahr später stehe ich mit einem Bekannten in einer Raucherpause draußen und unterhalte mich über das gute Wetter. Der Mai beginnt gerade damit, sich so richtig ins Zeug zu legen. Zwischen zwei Zügen meint er “Oh Mann, das wird wieder eine harte Zeit für die Gastro, wenn die ganzen Leute wieder auf der Straße sitzen, anstatt in eine Kneipe zu gehen” - “Cornern meinst du?”, erwiderte ich. “Ist mir scheißegal wie das heißt, es ist die schlimmste Unsitte seit dem Rumlungern auf Tischtennisplatten und Spielplätzen - aber kein Stück besser”. Darauf konnte ich nichts erwidern, ich musste nachdenken. Mein eigenes Verhalten überdenken, wie man das so als Mitte-Zwanzigjähriger regelmäßig eben macht (oder machen sollte).
Zwei Wochen später schaffte das Thermometer zum ersten Mal die 20 Grad. Wie immer nehme ich den Weg zum Kiez über den Grünen Jäger/Wolwillstraße. Und ich kann meinen Augen nicht trauen: Was mir letztes Jahr noch als stinknormales, sogar cooles Ding vorkam, löst in mir jetzt einen peinlich berührtes, ja ziemlich wütendes Gefühl aus. Nicht nur, dass es mir im Nachhinein als völlig hirnlos erscheint, wie bei einer Sitzdemo dicht gedrängt sich den Arsch auf dem Asphalt platt zu sitzen, wenn doch nebenan eine Bar sich an die andere reiht – der halbe Straßenzug scheint sich in einem nicht endenden Straßenfest verwandelt zu haben, von dem sich außer den Teilnehmern jeder belästigt oder an die Rand der Existenzängste gedrängt fühlt.
Die Anwohner werfen aus Wut und sicherlich auch aus Frustration Wasserbomben auf die unten Sitzenden. Die Barbesitzer beklagen sich über Gäste, die Bier vom Kiosk nebenan mit rein bringen und nichts bei ihnen kaufen - ganz zu schweigen von den Toiletten, die sie benutzen. Einzig die Kioskbesitzer wie beispielsweise die der Tabakbörse können sich als Gewinner dieses Trends beglückwünschen.
Kill the corner, not the bar
Bevor wir jetzt wütend mit Wasserbomben unter dem Arm bei den Anwohnern klingeln, um denen da unten mal richtig einzuheizen, sollten wir uns wahrscheinlich alle an unserer eigenen Nase packen. Denn ich kenne niemanden der nicht hin und wieder cornert.
Doch der Kiosk sollte und darf niemals die Bar ersetzen. Aus dem Nachtleben zwischen Dartscheiben, abgerissenen Toilettendeckeln und klebrigen Tresen stammen nicht nur einige der besten Geschichten unserer Zeit, sondern sie sind der Teil der Stadt, die auch bei Regen lebt und Hamburg zu dem macht, was es ist. Wenn diese Kneipen und Bars in den drei Sommermonaten kaum Gäste haben, weil vor ihrem Laden eine Meute angesoffener Studenten aus Ottensen mit ihrem Trommelkreis Wonderwall von Oasis covert, dann bleiben sie leer. Und das hält keine Kneipe lange durch. Dass du bis 0 Uhr draußen im Park sitzt, wenn es das Wetter hergibt, stört übrigens niemanden, denn dafür sind Parks ja da.
Deine Kneipe ist auch bei Regen für dich da
Besinnen wir uns also darauf, wo das Trinken seinen Platz hat: IN der Kneipe. Dort schmeckt das Bier auch nicht wie lauwarmer Bronchialtee. Ganz unabhängig von der Bierqualität steht in einer Kneipe oder Bar ein Mensch hinter dem Tresen, der dir zuhört, wenn sonst niemand für dich da sein kann - oder hast du schon mal stundenlang am Kiosktresen über deine Probleme gesprochen? Ich für meinen Teil bin kaum über ein “Hey, ne Schachtel rote Gaulloises und zwei Bier, bitte.” - “Macht dann 8.20 Euro”, rausgekommen. Vor allem dann nicht, wenn hinter mir eine Schlange durstiger Corner-Menschen sehnsüchtig wartet, dass ich endlich mein Kleingeld rausgekramt habe.
Und spätestens Ende September, wenn sich dein Corner-Kiosk einen Dreck um dich schert, ist die Kneipe auch beim schlimmsten Schietwetter für dich da - versauen wir’s uns also besser nicht mit ihnen.