Warum ich 2023 für niemanden mehr einen BH tragen muss
Ich habe lange überlegt, mit welcher unangenehmen Situation ich diesen Text einleite, weil mir direkt mindestens fünf passende in den Kopf geschossen sind. Dieser hier liegt erst ein paar Wochen zurück und hat mich letztlich dazu gebracht, diesen Artikel zu schreiben: Ich saß im Bus, auf dem Weg nach Hause, es war der erste richtig warme Tag des Jahres und ich hatte mein dunkelblaues, eng anliegendes T-Shirt an, das meine Gen-Z-Schwester als absolut fesch bezeichnet. Während ich da nun also durch Eimsbüttel fuhr, bemerkte ich, dass mich eine Frau, schätzungsweise um die 70 Jahre alt, oft und lange anstarrte.
Zuerst warf ich ihr ein flüchtiges Lächeln zu, weil ich dachte, dass sie vielleicht einfach einen schlechten Tag hätte und die kurze Geste wertschätzen würde. Aber Fehlanzeige. Das Ganze erreichte dann seinen Höhepunkt, als ich aufstand und sie einen großen Satz machte, mich an der Schulter antippte und fragte: "Sag mal, hast du etwa keinen BH an? Du weißt aber schon, dass das die Männer ganz schön wuschig macht, oder?". Ich war so perplex und musste ja auch aussteigen, dass ich einfach nur antwortete: "Nee, hab ich nicht" und ausstieg.
Woher kommt diese Besessenheit von Frauen* und ihren Nippeln?
Geschichten wie diese sind tatsächlich keine Seltenheit. Ich habe von vielen Freund*innen schon gehört, die in ähnlichen Situationen waren und sowohl von Frauen* als auch von Männern* angesprochen wurden, wenn sie in der Öffentlichkeit keinen BH getragen haben. Da fragt man sich doch: Woher kommt diese Besessenheit von Frauen und ihren Nippeln? Die Erfindung des BHs liegt weit in der Vergangenheit, so wie wir ihn heute kennen, wurde er 1914 von Mary Phelps Jacob erfunden. Und seit den 1950er Jahren hat sich am Design auch nicht wirklich viel getan, wenn wir mal ehrlich sind. Und so fühlt es sich auch an!
Wie oft dachte ich mir schon: "Ich kann gar nicht abwarten, bis ich endlich zu Hause bin und diesen unbequemen BH ausziehen kann." Egal wie lange ich unterwegs bin, die erste Sache die ich mache, sobald die Haustür hinter mir ins Schloß fällt: BH aus und gemütliches T-Shirt an. Und dann dachte ich mir irgendwann: Ne. Warum soll ich mich quälen und es den ganzen Tag lang unbequem haben? Ich kann den BH auch einfach weglassen.
Excuse me, wir haben 2023?!
Aber das Problem ist, dass Frauenkörper ständig sexualisiert werden – wenn man bei uns die Nippel sieht, wird dies als anzüglich, aufreizend oder sogar geschmacklos bezeichnet. Dabei sind es nicht nur Männer*, die meinen sich einmischen zu müssen. Selbst auf meine Instagram-Storys bekomme ich Nachrichten wie: "Saaaag mal, trägst du da etwa keinen BH?". Auch Frauen*, haben anscheinend ständig das Gefühl, mir sagen zu müssen, dass sich das so aber nicht gehört.
Wahrscheinlich meinen es auch gar nicht alle davon böse, es sprechen wohl die Werte und Vorstellungen aus ihnen, mit denen sie aufgewachsen sind – und die sie mir auch in meinem Interesse mitteilen möchten. Aber erstens geht es einfach niemanden etwas an, was ich mit meinem Körper mache und zweitens wird es Zeit, dass wir diese alten Werte hinter uns lassen und jede*r selbst entscheiden kann, was er* oder sie* tragen möchte – oder eben auch nicht. Denn Frauen*, die keinen BH tragen, sollten genauso wenig sexualisiert oder hinterfragt werden, wie Männer*. Deren Nippel ja schließlich auch kein Aufsehen erregen. Nichts ist an weiblichen Nippeln anzüglich oder macht Männer "wuschig" – und wenn, dann ist das ganz sicher nicht mein Problem. Ich meine, excuse me, wir haben 2023?! Da sollte es völlig normal sein, als Frau* keinen BH mehr zu tragen, wenn man es nicht möchte. Ich möchte das diesen Sommer jedenfalls nicht – und werde bei der nächsten Busfahrt hoffentlich schlagfertiger reagieren.