Generation Nüchtern: Schnapsidee oder überfällige Trinkkultur-Wende?

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Ob Childish Gambino, Pink oder blink-182: Sie alle haben Songs mit dem Titel “Sober” geschrieben. Ernüchternd? Denn so wirklich glaubwürdig scheint der "trockene" Twist nicht zu sein, wenn man sich überlegt, wie stark Popkultur von Alkohol- sowie Drogenkonsum geprägt ist. Ganz plakativ werden dabei die berauschenden Stunden der Nacht als künstlerische Metapher stilisiert. Denn das Dunkel im Neonlicht reizt, verkauft sich gut und schreibt die besten Geschichten. Bis jetzt. Denn immer mehr bahnt sich eine spürbare Veränderung an. Angeführt von einer Riege junger Menschen, die bewusst auf die taumelnde Ekstase verzichten und sich lieber ohne zusätzliche Substanzen die nächtlichen Stunden um die Ohren schlagen. Ihr Antrieb trägt den Claim "Sober Curiosity" und eröffnet einen Lebens(t)raum voll Alternativen.

Der Substanzkonsum von Alkohol ist auf einem historischen Tief

Wie handfest diese nüchterne Neugier zu sein scheint, belegt unter anderem eine globale Datenanalyse der Plattform YouGov aus dem Jahre 2022. Laut der konsumieren besonders die deutschen Jugendlichen vergleichsweise weniger Alkohol, als noch vor einigen Jahren. Mit stolzen 49 Prozent ist hier die Gen Z Spitzenreiter, wenn es darum geht bewusst auf die Genussdroge zu verzichten. Ein Trend, der auch international zu beobachten ist, ergänzt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Denn der Substanzkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland hat ein historisches Tief erreicht. Wie bei vielem, was sich nach 2020 ereignet, wird auch hier zunächst die Ursache in der Corona-Pandemie gesucht. Keine Partys, kein Nachtleben, Spaßkultur-Verbot. Damals mangelte es laut Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) schlicht an Möglichkeiten für Gelegenheitskonsum. Ansichtssache. Life is (still) a Party und Gelegenheiten schaffen sich schneller, als den Autoritäten lieb ist. 

Überall beinhaltet, fast ritualmäßig, die Antwort auf die Frage "Was trinkst du?" immer mindestens ein oder mehrere Promille.

Alkohol – die gesellschaftlich akzeptierte Droge

After-Work-Drinks mit den Kolleg*innen. Am Wochenende ein Sekt-Brunch. Eine Date-Night mit Vino. Oder Cosmopolitan mit den Girls. Überhaupt folgt eine Gelegenheit der nächsten, um genüsslich die Gläser oder Flaschen zu heben. Im Alltag oder eben Arbeitskontext. Überall beinhaltet, fast ritualmäßig, die Antwort auf die Frage "Was trinkst du?" immer mindestens ein oder mehrere Promille. 

Kann man es den Leuten verdenken? Alkohol verspricht: Hier entstehen Geschichten und Verbindungen, die du nie vergessen wirst. Mit etwas "on the Rocks" in der Hand fühlt man sich eben sicherer, als mit leeren Händen. Oder einer Apfelschorle. Was Alkohol zu einem attraktiven Bindeglied werden lässt, das wie ein Grillanzünder das soziale Feuer entfacht. Nüchtern sein, kann da nicht mithalten. Oder etwa doch? Denn so richtig hinterfragt, wieso wir eigentlich trinken, haben vermutlich die wenigsten. Trinken gehört wie selbstverständlich zum guten Ton – zumindest in der westlichen Welt. Zeit also, das eigene Trinkverhalten gründlich zu reflektieren und kurios in Richtung "being sober" zu denken. 

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"Sober Curiosity": I got 99 Problems, but being wasted is none

Bereits seit 2018 kursiert die "Sober Curiosity" im Duktus und findet immer mehr Anhänger*innen. Selbst die Spirituosen-Industrie hat schon das Potenzial gewittert. Das Angebot an alkoholfreien Alternativen von kleinen Brands und großen Konzernen sowie Stores wie nüchtern rücken immer weiter in die Mitte der Gesellschaft. Vor allem online entwickelt sich die New-Wave-Trinkkultur mit Beinamen "Liquid Evolution" im internationalen Raum schnell voran. Als Mitinitiatorin der Bewegung wird Ruby Warrington gesehen, die 2018 das Buch "Sober Curious" veröffentlichte. Für sie ist Abstinenz die logische Konsequenz, wenn man ein bewusstes Leben führen möchte. Daher geht es darum, mehr Awareness für den Moment, in dem man zum Glas greift zu schaffen.

Was ist die Motivation? Will man sich vielleicht auch bewusst dem Rausch aussetzen? Den Anfang für diese Selbstreflexions-Reise machen schon länger jährliche Events wie der "Dry-January" oder der "Sober October". Zwei Monate, die sich bewusst mit dem Verzicht der Volksdroge auseinandersetzen und dazu führen können, dass man realisiert: Ohne Umdrehung fehlt mir nichts!

Lieber Nüchtern: der Unvernebelte Hedonismus

No-Booze ist also auch ein klein wenig zum Flex geworden. Zumindest in der "Gesund leben"-Bubble. Man trinkt Wasser auf Eis statt Halbtrockenen. Platz da, für die Sober Sensation! Hier ist Suff uncool und man distanziert sich bewusst, da man die Kunst gemeistert hat im Moment zu leben. Ganz Zen. Ziemlich beeindruckend, wenn man bedenkt, dass Menschen schon aus den nichtigsten Gründen dem Alkohol verfallen sind: Sei es die Macht der Gewohnheit oder hemmingwayesk die Suche nach Inspiration.

Doch die Generation Nüchtern scheint die Antwort auf die überfordernden Zeiten mit Krieg, Krisen und Klimawandel nicht im Glas zu suchen. Sie sind die unvernebelten Hedonist*innen, die gelernt haben, Situationen, die mehrheitlich mit Trinkkonsum verbunden werden, auch ohne diesen zu (er)leben. Mit Cola im Club, Bitterlemon in der Bar oder Apfelsaft beim Anstoßen. 

Nein zum Geist aus der Flasche, denn Verzicht ist sexy!

Und klar ist doch allen eins: Nüchtern bestritten ist das Leben die effizientere Option. Kein Kater, Kopfschmerz oder andere unangenehme Nebenwirkungen. Mehr Wahrnehmungskraft, weniger trübe Sinne. Seltenere Selbstüberschätzungen und das Verhindern vom Downer am nächsten Tag. Dinge, die absichtliche Abstinenz recht attraktiv aussehen lassen. Die einzige Krux hierbei ist: Sich dem sozialen Konstrukt der Trinkszene zu entziehen, erfordert einen hohen Akt der Selbstbeherrschung. Gepaart mit einer inneren Überzeugung, die bei bohrenden Fragen nicht nachgibt und stets dankend ablehnt.

Denn ist es nicht viel schöner, die "beste Nacht des Lebens" nüchtern und komplett anwesend zu erleben? Das habe ich mich gefragt und war geplant alkoholfrei unterwegs. Mit Fanta. Verändert hat sich nichts. Noch nicht mal das Gefühl beim Anstoßen. Ähnlich wie mit Drinks war es ein ereignisreicher Abend – und ich erst um halb sechs im Bett. Nur, hatte ich am nächsten Tag noch was von diesem, statt ihn müde unter der Decke zu verbringen.

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Nüchtern sein Bedarf keiner Erklärung!

Auch ich habe gehadert. Die Verführungen, sich für das eine Glas mitreißen zu lassen, ist omnipräsent. Doch sobald man darauf achtet, fällt auf: Es sind ganz schön viele, die nicht trinken! Auch in meinem Bekanntenkreis ist Nüchtern sein etwas ganz Normales. Dennoch nehmen sie aktiv am Nachtleben teil. Die Intentionen sind ganz unterschiedlich: religiöse Glaubenssätze, Unverträglichkeiten oder kein Interesse. Aber auch Argumente wie "Es schmeckt mir einfach nicht" oder "Ich sehe keinen Sinn daran", spielen eine Rolle. Dem gegenüber steht viel Unglauben, die Unterstellung von Alkoholproblemen oder das Argument Spaßbremse.

Die Diskussionen gibt es zu jedem nicht alkoholischen Drink inklusive. Doch bei dem Thema haben alle anderen einen unheimlich großen Bedarf, dem Warum auf den Grund zu gehen. Dabei sollte die Entscheidung, nüchtern zu bleiben, keiner Erklärung bedürfen. Dem "Nein Danke, ich trinke nicht" ebenso viel Wert beigemessen werden, wie der Killerphrase: "Ich muss noch fahren"! 

Nicht umsonst heißt das Konzept Mut antrinken – easy vom Highball zum Highfive!

Dabei funktioniert selbst nüchtern das Konzept Party: Denn im Zentrum steht ja eigentlich nicht der Rausch, sondern das soziale Miteinander. Das funktioniert sowohl mit als auch ohne Alkohol gleichermaßen. Natürlich fällt es nicht allen leiht, auf neue Menschen zuzugehen. Nicht umsonst heißt das Konzept Mut antrinken – easy vom Highball zum Highfive! Aber braucht es das wirklich? Wenn man sich nämlich oft genug in neue Situationen begibt und gezielt daran arbeitet, gute Gespräche entstehen zu lassen, wird auch das irgendwann weniger Überwindung kosten.

Doch die eine Frage, die bleibt, ist: Befinden wir uns an einem generationsübergreifenden Wendepunkt, der die Anti-Rauscherfahrung dem beliebten Schalldämpfer vorzieht? Oder spricht das historische Tief des flüssigen Substanzkonsums nur dafür, dass eine Verlagerung hin zu neuen Rauschmitteln stattgefunden hat? So oder so, hat jede Generation wohl ihre ganz eigene Interpretation von Rebellion und der Alkohol hat in diesem Sinne einfach ausgedient. 

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