Endgegner für Familien: Viruswelle – wenn nichts mehr geht
Sonntagnacht. Ich liege wach, lausche dem bellenden Husten meines Sohnes und mache mir Sorgen. Natürlich in erster Linie um ihn. Was hat er nun wieder für einen Virus aufgeschnappt? Wir hatten diesen Husten doch gerade einigermaßen in den Griff bekommen. Darüber hinaus drehen sich meine Gedanken natürlich auch darum, was das für die kommende Woche bedeutet. Wieder verhandeln, wer wie lange mit dem Kind zuhause bleibt. Wieder bei der Arbeit fehlen. Wieder ewig beim Kinderarzt sitzen, mit einem Kind, das eigentlich ins Bett gehört. Inzwischen habe ich wahnsinnige Kopfschmerzen. Jeder Huster meines Sohnes fühlt sich an wie ein Hammerschlag auf meinen dröhnenden Kopf. Dazu der reißende Gedankenwasserfall, den ich einfach nicht stoppen kann. Ich gehe die notwendigen Schritte für den morgigen Tag gedanklich durch. Die Arbeit informieren. Eine Übergabe schreiben. Termine verschieben. Der KiTa Bescheid geben. Bei der Kinderärztin anrufen. Ich befühle seine Stirn. Er hat mindestens erhöhte Temperatur. Haben wir noch Fiebersaft? Ach nee, ist in den Apotheken ja schon lange vergriffen. Aber was mache ich, wenn sein Fieber weiter steigt? Der Gedankenwasserfall wird schneller und schneller. Nun kann ich die Gedankenfetzen nicht einmal mehr zu Ende denken, sie nicht mehr fassen, es sind einfach zu viele und es werden immer mehr. Kein gutes Zeichen. Irgendwann falle ich erschöpft in einen leichten Dämmerschlaf, der immer wieder unterbrochen wird von den Hustenanfällen meines Sohnes ...
Montag: The Lowest of the Low
Am nächsten Morgen ist klar: Dieses Mal hat es uns alle drei erwischt. Und zwar richtig. Anfang November erkrankte mein Partner an COVID-19, damit fing die Misere an. Mein Sohn und ich sind davon zwar glücklicherweise verschont geblieben, aber seitdem hat uns ungefähr jede Seuche ereilt, die es auf diesem Planeten gibt (vielleicht mit Ausnahme der Affenpocken). So gut wie alles, was unser Sohn aus der KiTa angeschleppt hat, hat er nahtlos an uns weitergegeben. Etliche grippale Infekte, eine Bindehautentzündung, diverse Magen-Darm-Infektionen, und nun das: Eine fette Grippe. In den letzten Monaten haben wir vermutlich einige Quadratkilometer Regenwald an Taschentüchern durchgeschnäuzt, hunderte wirkungslose Tabletten geschluckt und viele Hektoliter Erkältungstee in uns hineingeschüttet. Mittlerweile habe ich ein intimeres Verhältnis zu meiner Nasendusche als zu meinem Partner. Doch so lustig diese Aufzählung klingen mag, Fakt ist: Ich kann nicht mehr und ich will auch nicht mehr. Wir waren vorher schon am Limit, die Grippe zieht uns dreien nun komplett die Schuhe aus, ist einfach der Endgegner. Wir liegen mehrere Tage nur im Bett, unfähig, einen geregelten Tagesablauf aufrecht zu erhalten, und ertragen. Ich fühle mich wie in einem Videospiel, ein kleiner Super Mario, dem das Leben immer schneller und in immer kürzeren Abständen Hindernisse entgegen schleudert. Habe ich anfangs noch versucht, den Hindernissen auszuweichen oder gar über sie drüber zu hüpfen, ballern sie jetzt einfach ungebremst in mich hinein. Ich habe keine Extraleben mehr, rutsche ständig auf herumliegenden Bananenschalen aus, bin kurz vorm Game Over.
Eine fremde Frau heißt mich mit den Worten "Na, auch krank?" am Ende der Schlange willkommen.
Dienstag: Nahkampfzone Kinderarzt
Am Dienstag schleppe ich mich mit meinem Sohn zur Notfallsprechstunde unserer Kinderärztin. Ab 11 Uhr kann man sich dafür anmelden, wie immer drängen sich bereits ab 10.30 Uhr unzählige Menschen mit triefnasigen Kleinkindern vor dem Eingang. Denn es geht nach der Reihe und wer schon eine halbe Stunde vor Öffnung der Anmeldung dort ist, kommt natürlich als Erste*r dran. Es wundert mich, dass ich keine Campingstühle oder Zelte sehe. Väter halten teilweise Plätze in der Schlange, um später von ihren Frauen mit den kranken Kindern abgelöst zu werden. Clever. Wir sind natürlich nicht auf die Idee gekommen und mal wieder spät dran. Eine fremde Frau heißt mich mit den Worten "Na, auch krank?" am Ende der Schlange willkommen. Ich möchte antworten "Nee, wir sind wegen der geilen Currywurst hier", verkneife mir aber die bissige Antwort und nicke nur gequält. Wir harren schließlich 25 Minuten in eisiger Kälte aus, bis wir uns anmelden und ins Bazillenbecken Wartezimmer aufrücken dürfen. Dort breche ich in Tränen aus. Warum? Weiß ich selbst nicht. Vermutlich eine Mischung aus Erschöpfung, Überforderung, Sorge um meinen Sohn. Ich wische mir verstohlen die Tränen aus dem Gesicht.
Irgendeiner der folgenden Tage: Keine Besserung in Sicht
Zuhause hängt mein fiebernder Sohn 24/7 an meinem Körper. Selbst, wenn ich auf Toilette gehe, muss er mit. Es tut mir leid, das schreiben zu müssen, aber seine ununterbrochenen, jammerigen Klagelaute sind spätestens nach dem dritten Tag unerträglich für mich. Ich ertappe mich dabei, wie ich Menschen beneide, die keine Kinder zu versorgen haben und sich den Luxus leisten können, eine Krankheit einfach auszukurieren: Den ganzen Tag im Bett liegen, Gemüsebrühe schlürfen, Netflix leer gucken. Die Welt da draußen einfach mal ein paar Runden ohne dich drehen lassen. Und nach überstandener Krankheit wieder gesund und erholt zur Arbeit gehen. Ein Traum aus einem vergangenen Leben.
Freitag: Die Auferstehung
Ich sehe Mütter und Väter, die keine Kraft mehr haben, stündlich Fieber zu messen, Zwiebelsäckchen auf Ohren zu drücken, Kleinkinder in nicht enden wollenden Diskussionen zur Einnahme von Arzneien zu bewegen.
Nach etwa fünf Tagen sehen wir langsam etwas Licht am Ende des Tunnels und können wieder so alltägliche Dinge verrichten wie kochen oder duschen. Warum ich das alles aufschreibe? Nicht, weil ich mir so schrecklich selbst leid tue (okay, nicht nur). Nein, weil ich weiß, dass es unzähligen Familien gerade genau so geht. Sie wurden wie wir von dieser Viruswelle überrollt, die durch den Wegfall der Anti-Corona-Maßnahmen, die uns auch vor gewöhnlichen Grippeviren geschützt haben, dieses Jahr enorm an Fahrt aufgenommen hat. Krankenstände schießen in die Höhe, es trieft und schnieft an jeder Ecke. Familien, deren Kinder durch den Besuch von KiTa und Schule viel Kontakt zu anderen Menschen haben, schlittern von einem Infekt in den nächsten. Ich sehe Mütter und Väter, die keine Kraft mehr haben, stündlich Fieber zu messen, Zwiebelsäckchen auf Ohren zu drücken, Kleinkinder in nicht enden wollenden Diskussionen zur Einnahme von Arzneien zu bewegen. Sie sind selbst körperlich und mental am Ende, müssen aber funktionieren, denn krankmelden mit Kind ist nicht. Dazu die bundesweite Medikamentenknappheit, überfüllte Krankenhäuser und Notaufnahmen. Es ist eine beschissene Situation, kein Ende in Sicht. Was soll man auch sagen? Im Frühling wird alles besser? Es sind noch drei Monate bis zum kalendarischen Frühlingsanfang. Drei. Monate.
Was uns am Leben hält: Solidarität
Das einzige, was uns während dieser letzten schlimmen Krankheit aufrecht erhalten hat, war die Anteilnahme unseres Umfelds. Unsere Familien wohnen zu weit weg, um uns vor Ort unterstützen zu können, aber sie haben sich fast täglich nach uns erkundigt. Eine liebe Freundin hat uns Essen gekocht und vor die Tür gestellt. Eine aufmerksame Nachbarin hat uns eine Tüte mit Lebensmitteln gepackt, ihre Kinder haben unserem Sohn ausrangiertes Spielzeug geschenkt. Als wir die Tüte vor der Tür entdeckt haben, sind uns vor Rührung die Tränen gekommen. Ich wünsche allen Eltern, die gerade mit diesen ganzen biblischen Plagen strugglen, dass sie auch Hilfe und Unterstützung durch ihr Umfeld erfahren. Ich wünsche ihnen, dass Medikamente geteilt werden, sie mal ein warmes Abendessen vor der Tür vorfinden oder sonntags eine Tüte mit frischen Brötchen. Ich wünsche ihnen, dass sie über die kommenden Feiertage die Chance haben, ein bisschen zur Ruhe zu kommen und die Akkus aufzuladen. Um anschließend gestärkt ins nächste Level starten zu können. Denn wir haben es weiß Gott verdient.