Wie es sich anfühlt, den Krieg und seine Folgen als Polin von Hamburg aus zu erleben

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Ich kann nicht aufhören, Nachrichten zu konsumieren. Ich würde so gerne. Aber dafür müssen erst andere aufhören. Aufhören, zu bombardieren, anzugreifen, zu kämpfen, aufhören, zu sterben, aufhören, Millionen von Menschen zu Geflüchteten zu machen, aufhören, die gesamte Welt zu traumatisierten. Dafür muss der Krieg in Europa erst einmal aufhören. 

Geboren wurde ich 200 Kilometer östlich von Krakau. In Rzeszów, Polen. Das liegt (was mir auch erst in dieser Woche aufgefallen ist) nur etwa 120 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Die ersten Geflüchteten sind bereits in meiner Heimatstadt angekommen. Meine Oma, Tante und Cousine informieren uns regelmäßig. Sie planen, in den kommenden Tagen zur Grenze zu reisen, um vor Ort mit anpacken zu können und eine große Hilfsladung mit Medikamenten, die aktuell am dringendsten benötigt werden, zu transportieren. Am liebsten wäre ich selbst gerade dort. Weil das aber nicht geht, laufen bei mir im Home Office den ganzen Tag nebenbei die Nachrichten. Und das macht auf Dauer krank. 

Ich habe Kriegs-Anxiety: Und jetzt?

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Nicht umsonst liest man aktuell auf jeder News-Seite Artikel mit Headlines wie beim Focus („Putins Krieg macht Ihnen Angst? Die 3-Schritte-Methode kann Ihnen helfen“) oder der Zeit („Kriegsangst: Es ist okay, wenn man sich jetzt Sorgen macht“). Kriegs-Anxiety. Wie surreal sich das anhört. Ist es aber nicht. Die Nachrichten überschlagen sich, Bilder von Verletzten, weinenden Kindern, verzweifelten Müttern und ängstlichen Ehefrauen reihen sich an News über Atomwaffen in Bereitschaft und kilometerlangen Truppen-Konvois. Man betreibt Doomscrolling (noch so ein Unwort) und der Puls geht hoch. 

Aber diesmal ist es anders. Diesmal greift das Böse in meine Heimat ein.

Jedes Mal, wenn die Welt den Atem anhält, klebe ich am Fernseher fest. Leider ist es nicht das erste Mal, dass ich aus einem 24-Stunden-Newscycle nicht rauskomme. Weil es leider auch nicht das erste Mal ist, dass ich mich in meinen nur 31 Jahren auf dieser Erde mit einem Ereignis auseinandersetzen muss, das mich lähmt. Erst war da Trump, dann die Stürmung des Reichstages und die des amerikanischen Capitols und dann war da noch Hanau. Und Afghanistan. Und, und, und. Frenetisch, fast panisch schalte ich beim Schreiben dieses Textes nun also wieder von der ARD um auf amerikanische Sender und dann wieder um zur polnischen Berichterstattung. Warum? Weil ich einerseits nichts verpassen, auf der anderen Seite bloß nicht uninformiert sein möchte und dann ist da immer noch dieses letzte Fünkchen Hoffnung auf Resolution und Frieden.

Von Ohnmacht und Schuldgefühlen

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Aber diesmal ist es anders. Diesmal ist alles noch viel näher, viel unvorstellbarer und viel beängstigender. Diesmal greift das Böse in meine Heimat ein. Wovor ich genau Angst habe? Vor einem Krieg in Polen? Sicherlich. Vor der Unberechenbarkeit Putins und seinen Atomwaffen? Immer! Was jedoch das Schlimmste ist, ist meine Ohnmacht. Das Mindeste, was ich aktuell tun kann, ist live von meinem äußerst privilegierten Platz auf dem heimischen Sofa von Hamburg aus meinen Landsleuten dabei zuzuschauen, wie sie Frauen und Kindern an der Grenze versuchen zu helfen. Manch eine*r mag es Selbstlynchung nennen oder „White Guilt“. Ist es sicherlich auch. Doch es geht noch tiefer als das. Denn einer der zahlreichen Gründe, warum ich hier ängstlicher bin als beispielsweise meine Verwandtschaft in Polen, hat sicherlich etwas damit zu tun, dass sie vor Ort aktiv Hilfe leisten, die Situation mit eigenen Augen erleben und somit auch eigenständig einschätzen können. Ich wiederum sitze hier, um es mal ganz platt zu sagen, dumm rum.

Und ich bin keineswegs ein Einzelfall. Allein in Hamburg lebten im Jahr 2020 laut Statista über 25.000 Menschen mit polnischer Abstammung, wobei ein beachtlicher Prozentsatz von ihnen Familie in Polen hat. Diese Situation ist an sich keine einfache. Ich kann nur von mir sprechen, weiß aber aus Unterhaltungen, dass es vielen Deutsch-Pol*innen ähnlich geht: Denn fühlen tue ich mich polnisch, genieße jedoch alle Vorzüge einer Deutschen. Klar, die Wirtschaft der Bundesrepublik ist stärker, die Infrastruktur, unser Bildungssystem sowie das soziale Auffangnetz besser ausgebildet, wir Frauen und andere marginalisierte Gruppen genießen hierzulande mehr Rechte und so weiter. Darum geht es mir aber nicht. 

Selten habe ich mich so weit weg von meiner Heimat gefühlt, wie in den letzten Tagen.

Mir wurde vielmehr deutlich, wie viele andere Vorteile – mit dessen Existenz ich mich erst seit Putins Krieg gegen die Ukraine konfrontiert fühle – ich als Polin in Hamburg genieße: allein die Entfernung zu Russland. Selten habe ich mich so weit weg von meiner Heimat gefühlt wie in den letzten Tagen. Und gleichzeitig habe ich mich noch nie so slawisch gefühlt wie seit dem 22.2.2022. Deswegen bleiben der Fernseher und sämtliche YouTube-Kanäle so lange an, wie eben nötig. Hoffentlich ist das nicht mehr lange…

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