Hamburg, deine Straßen: Die Mönckebergstraße
Hamburg, für diese Erkenntnis muss man keinem Tabledance-Türsteher in St. Pauli auf den Leim gehen, war schon immer ein Meister der Illusion. Das angebliche „Tor zur Welt“ zum Beispiel ist ja weit kleiner als das Maul lokaler PR-Strategen. Die Beatles haben hier auch nur ein paar Monate lang Coversongs gespielt. Von sündigster Meile bis fahrradfreundlichste Stadt ist vieles Fassadenkletterei einer Stadt, die sich gerne am eigenen Ego berauscht, dass Außenstehende ähnlich besoffen sind wie Einwohner. Doch wer jetzt glaubt, gegen den Größenwahn immun zu sein, steht womöglich vorm imposanten Hulbe-Haus und denkt: Boah, so viel Geschichte in der geschichtslosen Kaufmannsstadt? Geil!
Wirklich alt ist an der Mönckebergstraße – so ziemlich nichts
Nee, reingefallen! Denn was da im Renaissance-Look aus der Mönckebergstraße ragt, mag für Hamburgs Verhältnisse betagt sein; verglichen mit deutscher Altstadtarchitektur ist Henry Grells Prachtbau von 1911 ein Baby – nur, dass man ihm sein Geburtsjahr noch weniger ansieht als der romanischen Villa am Mönckeberg-Brunnen, einem „Seeburg“ getauften Gründerzeit-Traum nebenan oder dem backsteinstolzen Levante-Haus gegenüber. Überhaupt findet sich zwischen Hauptbahnhof und Rathausmarkt reichlich Blendwerk einer Stadt, die hier vor rund 120 Jahren einen breiten Boulevard durchs enge Gängeviertel trieb.
Der „Durchbruch“, wie die „Mö“ damals hieß, sollte das bürgerliche Selbstwertgefühl mit Säulen, Prunk und Weite in Profit verwandeln. Mit Erfolg. Seit ihrer Sanierung Anfang der 90er, als die autogerecht totsanierte City-Querung in ihren Urzustand versetzt wurde, hat sich die Mönckebergstraße zu Deutschlands zweitbelebtester Einkaufsmeile gemausert. Zur Fußgängerzone konnte sich der Senat im Gegenwind des Einzelhandels zwar nicht durchringen; aber seither rollen nur noch Busse, Taxis, Lieferwagen übers Pflaster. Mit etwas Fantasie, könnte man vorm Hulbe-Haus rechts der mittelalterlichen Petri-Kirche da fast ein Gefühl von altstädtischer Gemütlichkeit kriegen.
Zwischen teurem Lifestyle und Spenden
Okay: mit sehr, sehr, sehr viel Fantasie. Schon die zwei sauteuren Lifestyle-Geschäfte darin zeigen ja, dass auf 800 Meter Länge nur fünf Dinge zählen: sehen und gesehen werden beim Shoppen, Shoppen, Shoppen. „Die Leute haben oft den Konsumtunnelblick“, meint der Hinz &Kunzt-Verkäufer vorm jugendstilsatten Passage-Kino. Dass ihm auch im Winter da selten die Laune vergeht, liegt an den Nobelkanzleien und PR-Agenturen überm ältesten Lichtspielhaus der Stadt. „Die Angestellten kennen mich“. Noch spendabler seien nur Touristen, „besonders die mit etwas weniger Geld.“ Und die mit etwa mehr? Er lacht: „Haben offenbar besseres zu tun…“. Edle Steppjacken und Burberryschals ausführen zum Beispiel.
Die letzten Überlebenden zwischen Konsum-Giganten
Deren Dichte ist entsprechend ähnlich hoch wie die geschäftlicher Ketten. Die Mö ist wie jede Einkaufsstraße des Planeten fest in der Hand von H&M, Chanel, Starbucks oder Vodafone, lokal ergänzt durch Fielmann, Douglas, Wempe, Görtz und der Haspa. Umso erstaunlicher ist es, dass sich zwischen all den Flagshipstores und Konzernfilialen ein Dutzend inhabergeführter Läden mit Schaufenster zur Mö gegen Mietenirrsinn und Konfektionierung behauptet. Etwa der Fotofachmarkt Wiesenhavern, 1895 eins der ersten Geschäfte vor Ort. Unter einem der vielen Notariate verkauft der winzige „Bären-Treff“ Süßes. Neben Zara werden seit 1979 Blumen für die Auslagen der Nachbarn oder das Luxushotel Hyatt gegenüber verkauft.
Explodierende Mieten an Hamburgs erster Konsumadresse fordern halt ihren Tribut. Dafür ist sie selbst nieselregenalltags so voll, dass man beim Blick übers wellige Pflaster des Gerhart-Hauptmann-Platzes das winzige Stück Alster kaum sieht
Der Herrenausstatter Braun dagegen ist sogar 86 Jahre an gleicher Stelle, wie ein Verkäufer mit Einstecktuch näselt. Von vielen seiner "80 Prozent Stammkunden“, er lächelt fein, „kenne ich die Namen“. Ist aber auch das Mindeste, wenn schlichte Sakkos schnell mal den Gegenwert zweier Hartz-4-Sätze kosten. Explodierende Mieten an Hamburgs erster Konsumadresse fordern halt ihren Tribut. Dafür ist sie selbst nieselregenalltags so voll, dass man beim Blick übers wellige Pflaster des Gerhart-Hauptmann-Platzes das winzige Stück Alster kaum sieht. Weil Hadi Teheranis Europa-Passage, für die er ein intaktes Neoklassik-Denkmal abreißen ließ, den Blick aufs Schöne, Echte, Lebenswerte, aber auch das Elende bettelnder Punks und gehetzter Arbeitsnomaden verbaut, möchte man ihm daher zügig entfliehen.
Ein mögliches Asyl: Das hinreißende Levante-Haus bei den Kaufhäusern von Peek & Cloppenburg bis Saturn. Errichtet für Hamburgs Reedereien, verströmt das ein Rotklinkerjuwel der Belle Époque bis heute einen Flair, das auch durchs Roncalli Grand Café weht. Schweres Leder, goldener Stuck, livrierte Kellner, viel Samt und Holz: Alles an dieser Oase wirkt in seiner Nostalgie so stinkgemütlich, dass man die horrenden Preise für Torte und Kaffee kurz vergisst. Zu schade, dass alles Fake ist, kaum älter als die Tablets, auf denen im Ambiente theatralischer Puppenstubenklassik bezahlt wird. Passt irgendwie gut. Zur Mönckebergstraße.