Hamburg, deine Straßen: Der Hamburger Berg

© Jan Freitag

Nein, hier ist sich wohl niemand bewusst, welch berühmtes Pflaster zum Tresen führt – sofern ihn die Kleingruppe trister Gestalten im Elbschlosskeller je verlässt. „Kumma, der guckt auch blöd wie’n Eimer“, grunzt jemand mit einer Stimme, die nicht klingt, als würde sie oft sauerstoffversorgt, und erntet dafür Gelächter, das an eine Vollbremsung im Kies erinnert. Vor der blind gequalmten Scheibe mag St. Pauli sonnabends ähnlich aufgeräumt sein wie gut geteerte Raucherlungen; dahinter jedoch gehört Unaufgeräumtheit selbst alltags zum Interieur. Es ist ein ehrlicher, achtbarer Dreck, der auch die Straße vor der Absturzkneipe kennzeichnet: den Hamburger Berg, vielleicht die bemerkenswerteste aller 7675 markierten Wege der Stadt.

Während südlich der Reeperbahn absoluter Kommerz herrscht, regiert nördlich davon – okay, auch der Kommerz, brutal sogar. Zugleich aber ist der Hamburger Berg ein Refugium des alten Kiezes jener Tage, als ihn die Stadt ringsum noch verächtlich links liegen ließ.
© Jan Freitag

Schließlich ist der Berg, wie ihn Ortsfremde oft nennen, nicht bloß ein Satz Häuser mit Bürgersteig plus Fahrbahn, sondern ein Phänomen. Inmitten des Orkans betriebswirtschaftlich strukturierter Ekstase hat er sich etwas Nostalgisches, ja Anachronistisches bewahrt. Während südlich der Reeperbahn absoluter Kommerz herrscht, regiert nördlich davon – okay, auch der Kommerz, brutal sogar. Zugleich aber ist der Hamburger Berg ein Refugium des alten Kiezes jener Tage, als ihn die Stadt ringsum noch verächtlich links liegen ließ. Und für diese Erkenntnis bedarf es noch nicht mal des Elbschlosskellers.

© Jan Freitag

Verqualmte Tradition

Gleich gegenüber zum Beispiel trotzt der Goldene Handschuh – oder wie es ein hörbar Zugezogener seinen drei Kumpels aus der alten Heimat im abgeflachten Pottslang erklärt: „ne richtig schöne Traditionskneipe“ – mit sturer Beharrlichkeit der Assimilation ins einsickernde Bürgertum. Seit Heinz Strunks Roman zählt sie zwar zum radical chic des Stadtmarketings. Aber wenn eine Frau mittwochmittags raus torkelt und lautstark das Licht im Freien beklagt, ist die Renitenz der Boxkaschemme auch 56 Jahre nach ihrer Geburt spürbar. Eine Aufmüpfigkeit, die bis zur Simon-von-Utrecht-Straße reicht.

© Jan Freitag

Ein Berg voller Geschichten

Von Rosi’s Bar bis Roschinsky’s, vom Sorgenbrecher bis zum Lunacy – die Keimzellen der zarten Subkultur im bandenkriegsumtosten Rotlichtbezirk sind weiter offen und werden durch Neuerungen wie pooca bar oder head crash eher unterhaltsam ergänzt als breitbeinig verdrängt. Das Hotel Hong Kong wird ohne Witz von einer Enkelin jenes Gründers geleitet, der es noch zu Zeiten des Chinesen-Viertels betrieben hatte. Fred’s kurzzeitig geschlossenes Schlemmereck wurde nach dem Tod des Besitzers just von Stammkunden wiedereröffnet. Und die vergilbte Auslage im Sexshop Nr. 5 zeugt davon, dass hier noch Seemänner ihre Pariser für den Landgang gekauft haben. „30 Jahre, mindestens“, schätzt der Verkäufer das Alter eines Ladens mit erstaunlich viel Laufkundschaft.

Bei jeder Schließung poppt daher ein Kiosk im Leerstand auf.

Sicher, drum herum gibt es den üblichen Aufwertungsverfall. Das unverwüstliche Ex-Sparr ging kürzlich an Leute, die es nach erbittertem Streit ums Namensrecht Berg 5 genannt und nun mehr Ginsorten als Gäste haben. Reno Machule fiel der Abschied von seiner Punkrockpinte indes längst nicht so schwer wie gedacht. Als er ihn 20 Jahre zuvor gepachtet hatte, „brauchten wir keine Türsteher“. Jetzt sei die Stimmung aggressiver, distanzierter, kommerzieller. Bei jeder Schließung poppt daher ein Kiosk im Leerstand auf. Und wo das Kaschemmendreigestirn Kiek Ut, Lucky Star, Villa Kunterbunt der Verwertungslogik jahrzehntelang in Flachdachhöhe widerstehen konnte, steht seit kurzem ein aseptischer Zweckbau – der auf seine Art gleichwohl den Blick fürs Ganze weitet.

© Jan Freitag

Ein Ort zum Feiern – und zum Leben

Denn der Hamburger Berg, wie St. Pauli im Ganzen hieß, als es noch die vordemokratische Müllkippe schmuddeliger Berufe und Menschen war, ist trotz seiner 72-stündigen Touristenbelagerung auch Wohngebiet. Und kein unbeliebtes. „Ich komm vom Dorf, das ist mein Dorf“, sagt Catharina auf der Stufe ihrer Tätowierstube, die sie mit vier Freunden betreibt. Im Umkreis von 200 Metern habe die 29-Jährige eben alles, was man zum Leben braucht: Budni, Bäcker, Penny, Party, vor allem aber „Nachbarn, die sich noch grüßen“.

Zur Apotheke muss sie zwar die Reeperbahn queren, dafür wohnt die Tätowiererin hoch überm Arbeitsplatz, mit Blick über baumbestandene Altbausubstanz, zwei- bis dreistöckige Gründerzeit, teils bestens in Schuss, seltener verwittert, dann aber mit Liebe dekoriert: mal Blumenkästen, mal Power Rangers, man muss nur bewusst den Kopf heben.

© Jan Freitag

Hamburg, deine Perle ist also nur unter der Gürtellinie laut und dreckig. Darüber schillert sie gern ebenso nett wie beschaulich. Als ein Mann mit tiefsitzender Mütze das Pornokino verlässt, klingelt zwei Hauseingänge weiter jemand mit Kuchen an der Haustür. Davor steht eine knallrote Corvette als wäre die Epoche der Pelzmantelluden lebendig. In einer Straße, die im Grunde zwei Straßen ist. Für Menschen mit zwei Leben wie Catharina. „Am Wochenende wohne ich bei meinem Freund“, sagt sie über ein Dorf im Dorf, das sie alltags weder verlassen muss noch will. Warum auch, fragt sie, „hier ist nicht nur schön, sondern real“. Realer als das Kunstprodukt Kiez.

Zurück zur Startseite