Hamburg, deine Straßen: Die Lange Reihe
Das Dorf kann auch anders. Renitent statt rentabel, nicht bloß servil, sondern stur. Meistens ist das Dorf zwar so voller Autos, Geld, Geschäftsinteressen, dass man den Asphalt darunter kaum sieht. Aber wenn es zu viel wird, erobert sich das Dorf die Straße schon mal zurück. Im Winter 2013 zum Beispiel, erinnert sich Ingrid Ness-Krohn, „als unser Laden einfach weggentrifiziert wurde“. Miete von 1400 auf 4100 Euro. „Hat der Besitzer wohl die Zahlen verwechselt“, die Buchhändlerin lacht. Heute. Damals jedoch war ihr nach 50 Jahren am Standort St. Georg zum Heulen zumute.
Bis das Dorf aufstand.
Im Auge des Verdrängungsorkans nämlich gab es seinerzeit fünf Demos für den Erhalt von Dr. Robert Wohlers & Co., wie Ingrid Ness-Krohns Laden bis heute heißt. Sie spreizt ihre Finger. „Fünf!“ Die größte mit fast 800 Leuten, die letzte mit nachhaltiger Wirkung. „Danach sind wir hier untergekommen“, ein Eckhaus am Ossietzky-Platz, bester Altbau, noch bessere Lage, kleiner zwar, doch näher am Hauptbahnhof. „Wir wären gern geblieben“, sagt die Antiquarin mit Neuwarensortiment. Aber mit dem Gefühl der Dorfgemeinschaft im Rücken, arbeite es sich auf halber Fläche zum gleichen Preis so gut wie zuvor. An einem der schillerndsten Orte Hamburgs, verachtet, vergöttert, umkämpft, umschwärmt, geliebt und gehasst: Die Lange Reihe.
Die Lange Reihe: Wo Gegensätze aufeinander prallen
Wer alle 7675 Straßen der Stadt im Geiste durchgeht, findet vermutlich keine, wo sich Hamburg so nah ist und zugleich so fremd. In einem Viertel, das dank seiner Lage bereits von Gentrifizierung betroffen war, als es den Begriff noch gar nicht gab, prallt in der Lange Reihe frontal aufeinander, was andernorts längst sorgsam segregiert wurde: Armut und Reichtum, Big Business und Kleingewerbe, Verdrängung und Beharrlichkeit, Leidenschaft und Pragmatismus, Metropolenstolz und – da ist es wieder – Dorfkultur. Alles anschaulich verdichtet auf 500 Metern Lebensader.
Armut und Reichtum, Big Business und Kleingewerbe, Verdrängung und Beharrlichkeit, Leidenschaft und Pragmatismus, Metropolenstolz und – da ist es wieder – Dorfkultur. Alles anschaulich verdichtet auf 500 Metern Lebensader.
Ein paar hundert Meter Vielfältigkeit
Schon am Hachmannplatz, wo der Bahnhofskiez nach Alkohol, Neubau, Kiffern mieft, zeigt sich die hybride Vielfalt dieser dicht besiedelten, zusehends teuren, oft noch erschwinglichen Einkaufsstraße. Zwischen Handyshop und Kiosk bieten vier Lokale Streetfood aus vier Nationen an, bevor Großstadtstandards von Peter Pane bis Balzac nordostwärts die Meile regieren. Im Dunstkreis gediegener Restaurants mit angeschlossener Craft-Brauerei und Modeboutiquen ohne Stangenware hält sich aber auch eine Alltagsversorgung, von der Kleinstädte nur noch träumen dürfen.
Bei aller Hektik stehen überall Gruppen auf dem Pflaster und unterhalten sich. Bei der Pausenkippe vorm Salon St. Georg in einem imposanten Kontorhaus Baujahr 1871 grüßt der Inhaber gefühlt fünf Bekannte in drei Minuten. Es gibt ein halbes Dutzend solcher Friseure, mindestens ebenso viele Bäckereien und nochmals dasselbe an Asiashops mit oder ohne Esoterik. Es gibt Fotostudios und Goldschmiede, Hutmacher und Blumenhändler, Ingrids Buchladen und das „Hamburger Nähmaschinenhaus“ im ältesten Privatgebäude der Stadt, wie die Verkäuferin erzählt. Vielleicht klingt sie bei der Schilderung bäuerlicher Malereien im knarzenden Fachwerk aus dem 17. Jahrhundert ja deshalb so ergriffen, weil es all dies im Grunde gar nicht mehr geben dürfte.
Von der Brandstiftung zum Aufblühen der Subkultur
Einerseits hatte ihr Nachbar seinen Altbau vor ein paar Jahren heiß – also mutmaßlich durch Brandstiftung – entmietet. Andererseits wäre der Standort 1973 beinahe legal dem Erdboden gleichgemacht worden. Damals lag ein fertiges Konzept vor, das Vorstadtghetto durch ein luxuriöses Neugebiet zu ersetzen. Auch sein Scheitern konnte die Mietexplosion, der allein im 21. Jahrhundert 50 Prozent aller Ureinwohner zum Opfer fiel, zwar nicht verhindern. Es sorgte jedoch zum Erblühen einer Subkultur, die sich nirgends besser bestaunen lässt, als im Café Gnosa.
Schon vor seiner Eröffnung 1987 war St. Georg im Schatten des katholischen Mariendoms zum „Gay Village“ erblüht, das weit über Hamburg hinaus bekannt war. Erst mit dem Lokal im Wiener Kaffeehausstil jedoch erhielt das homosexuelle Refugium der Stadt einen Boulevard, an dem sich die Szene auch an diesem herrlich schönen Frühlingstag bei hausgemachter Torte oder Matjes trifft, bevor sie am Abend westwärts zum schwulen Laufsteg Kyti Voo flaniert oder zur M+V Bar zwischen Haspa und Kindernothilfe. Während Männer auf dem benachbarten Steindamm „besser nicht Hand in Hand gehen“, wie Gnosa-Wirt Bernard Wissing rät, wurden Homosexuelle hier von Jahr zu Jahr normaler. Was natürlich nicht heißt, Heterosexualität sei die Ausnahme.
Größer könnte der Kontrast auf so engem Raum gar nicht sein. Wie in der Lange Reihe.
Das lässt sich gegenüber, wo die Gründerzeit abrupt in öde Nachkriegsarchitektur ausfranst, gut begutachten. Ausgerechnet wo 2015 der queere Buchladen Männerschwarm Pleite ging, befindet sich nun die Filiale des Bremer Tabakhändlers M. Niemeyer Cigarren. In seiner holzgetäfelten Raucherlounge läuten grad vier Kerle mit Cohiba und Zeitung den Feierabend ein. Es riecht nach Männlichkeit und Muße, nicht schlecht, aber irgendwie, nun ja, gestrig. Hier ein Salon tradiert Herrschaftsstrukturen, dort ein Salon libertärer Selbstermächtigung: größer könnte der Kontrast auf so engem Raum gar nicht sein. Wie in der Lange Reihe.