Kritik am Schlagermove – Wieviel Party kann St. Pauli ertragen?

© AdrianLack | Pixabay

Was Traditionen begründet, ist klar definiert: die konstante Pflege kollektiver Sitten und Gebräuche, bis daraus auf räumlich begrenztem Raum lebendiges Brauchtum wird. Dank jahrzehntelanger Weitergabe zählen Worte, Taten, Kleider vom Slang über Totenkopffahnen bis Schiffermütze daher zum Fundus hanseatischer Überlieferung. Gerade am Hafenrand hat das allerdings oft eher mehr mit Haltung als Dauer zu tun. Zwei Jahrzehnte, da ist die Stadtteilinitiative St. Pauli selber machen kompromisslos, „begründen noch keine Tradition“.

Genauer: 26 Jahre Schlagermove.

Solange schon gibt es eine Großveranstaltung, die aus Sicht der eventsüchtigen Hamburg-PR bloß „schräge Sonnenbrillen, verrückte Perücken, schrille Kostüme“ auf der Reeperbahn versammelt und dem Gastgewerbe damit, wie die renditesüchtige CDU sekundiert, „einen der umsatzstärksten Tage des Jahres“ beschert. Für die steigende Zahl buchstäblich angepisster Nachbar*innen dagegen machen Hunderttausende situativ entfesselter Provinzgewächse auf Betontrip den Kiez seit 1997 Sommer für Sommer zur weltgrößten Freilufttoilette.

Theoretisch also gibt es fünf Monate vor der nächsten Invasion von – je nach Perspektive – besoffenen oder solventen Tagestourist*innen kaum Grautöne. Und praktisch? Ist die Sache mit dem Amüsierviertel mitsamt seinen Bewohner*innen und Besucher*innen nicht so schwarzweiß, wie Befürworter*innen und Gegner*innen der Eventisierung meinen. Doch auch da hilft die Tradition weiter. Mit Sprichwörtern. Wer im Glashaus sitzt, besagt eins, sollte nicht mit Steinen werfen.

„Not in my backyard“ ist fast so spießig wie verkleidetes Schlagermoven. Besser gefragt: Sind wir nicht alle Tourist*innen irgendwo?

Wer im Feierkosmos lebt, muss auch Feiern zulassen?

Die Einheimischen zwischen Altona und St. Pauli haben schließlich – einerseits – das unermessliche Glück, einen der lebenswertesten Orte im urbanen Kosmos zu bewohnen, sollten aber auch deshalb – andererseits – nur dann über all jene herziehen, die ihn sich gern mal genauer ansehen, wenn er oder sie nie, wirklich niemals irgendwo anders zu Besuch ist, um sich deren Lebensmittelpunkt mal genauer anzusehen. Besser gesagt: „Not in my backyard“ ist fast so spießig wie verkleidetes Schlagermoven. Besser gefragt: Sind wir nicht alle Tourist*innen irgendwo?

In einem Viertel wie diesem dürfe Ruhe keine Bürgerpflicht sein, weil dieses Viertel lebt und lacht und atmet und auch dadurch so viel leibhaftiger ist als gewöhnliche Wohnbezirke.

Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu

Wer also – wie ich – vor Ort lebt, den aber auch zu Freizeitzwecken verlässt, benötigt also, was das Besuchsrecht Auswärtiger betrifft, ein etwas dickeres Fell. Die alte Vorstadt ist ja seit 300 Jahren Anziehungspunkt für Leute aus aller Welt und nächster Nähe, denen vor der eigenen Haustür halt die feste Infrastruktur zum Feiern fehlt. Sie gezielt aufzusuchen, ist da so legitim wie die urbane Sehnsucht nach ländlicher Stille. Auf der 8. Stadtteilversammlung „St. Pauli Selber Machen“ wurde zum Thema Lärmschutz daher eingewendet, in einem Viertel wie diesem dürfe Ruhe keine Bürgerpflicht sein, weil dieses Viertel lebt und lacht und atmet und auch dadurch so viel leibhaftiger ist als gewöhnliche Wohnbezirke.

Umso mehr gilt für alle Seiten jedoch: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“. Bedeutet an jedem Reiseziel der Welt: Verhalte dich beim Abstecher an die Hotspots der globalen Reisewelle von Barcelona bis Venedig so, wie du es daheim von Fremden erwartest.

© bergmann-gruppe.net / Henning Angerer

St. Pauli als Massentoilette bei Massenevents

Dummerweise schneiden hysterische Menschenaufläufe wie beim Hafengeburtstag da noch schlechter ab als die Testosterondusche der Harley Days. Graue Männer mit guter Rente für hochpreisige Motorräder machen zwar reichlich Lärm und Dreck; in der Regel benehmen sie sich aber schon mangels Alkoholkonsum nur im Einzelfall echt daneben. Beim Schlagermove ist Druckbetankung indes nicht Ausnahme, sondern ein Prinzip, das die Umgebung tagelang in Urin badet und auch sonst alle Sitten verroht. Da ist es an Zynismus kaum zu überbieten, dass die kommerziellste Megaparty der an kommerziellen Megaparys reichen Stadt 50.000 Euro Steuergeld für mehr Sicherheitspersonal fordert und das als „Qualitätsoffensive“ tarnt.

So, wie Hamburgs Pfeffersäcke einst störendes Gewerbe, Prostitution und Seeleute nach St. Pauli verbannten, ist es auch dem rot-grünen Senat ganz recht, dass sich die Partymassen im Ex-Sperrbezirk ballen.

Sinnvoller wäre es, sie wie die Harley Days wechselweise durch die Stadt zu schicken. Wenn das „Festival der Liebe“, wie es die Hossa-Hossa-Veranstaltungs-GmbH nennt, „eines der wichtigsten PR-Ereignisse des Jahres“ ist, wie die gewerbefreundliche IG St. Pauli hinzufügt: warum nicht mal die verödete City, das luftige Othmarschen, den ereignisarmen Ostteil in den Genuss von 500.000 Spaßkonsument*innen im Vollrausch bringen, wie es der Wandsbeker Marketingverein bereits vorgeschlagen hat? Weil Stadt und Bezirk trotz aller Lippenbekenntnisse nie ernstlich Alternativen zum Heiligengeistfeld als Aufmarschgebiet der 47 Festtrucks in Erwägung gezogen haben, lautet die Antwort: So wie Hamburgs Pfeffersäcke einst störendes Gewerbe, Prostitution und Seeleute nach St. Pauli verbannten, ist es auch dem rot-grünen Senat ganz recht, dass sich die Partymassen im Ex-Sperrbezirk ballen.

Wer dort wohnt, ist schließlich in der Tat Kummer gewöhnt. Normalerweise wird er jedoch spielend durch einen Mikrokosmus kompensiert, dessen Lebensqualität viel zu hoch ist, um sie sich vom Partyvolk der Vorstädte am Wochenende vermiesen zu lassen. Bei mindestens 350.000 Karnevalist*innen auf zweitägigem Enthemmungstrip ist die Belastungsgrenze jedoch weit überschritten. Nienstedten – jetzt seid ihr mal dran!

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