Abseits der Glitzerwelt: Auf Kieztour durchs reale St. Pauli

Ganz Hamburg ist fest im Griff standortbesoffener Fremdenführer. Ganz Hamburg? Nein, ein paar Guides auf St. Pauli bemühen sich, ihr Viertel so zu zeigen, wie es ist: laut, dreckig, cool und voll echter Menschen, die Touristen zusehends satt haben. Wir sind mitgelaufen.

Auf einer Reise abseits von Oktoberfest und Bullerbü

Und Leute, was führt euch in die schönste Stadt der Welt? Wer Olivia Jones und ihre baugleichen Imitate für viel Geld beim geführten Rundgang durchs Auge des hanseatischen Tourismusorkans erlebt, könnte glatt meinen, St. Pauli läge mittig zwischen Oktoberfest und Bullerbü. Keine Armut, nur Spaß. Keine Gewalt, nur Party. No risk, just fun. Ist ja alles so schön bunt hier! Ist es das? Die Realität im menschlich besiedelten Amüsierquartier sieht natürlich ein wenig gewöhnlicher aus als rings um die exaltierte Reeperbahn. Nur: Um das zu verstehen, sind geführte Informationsangebote von Titten Tinas Kieztour bis Nachwächter Erwin alles andere als aussagekräftig. Dabei gibt es professionellen Beistand für Auswärtige mit Neugier. Zum Beispiel Dani.

© Jan Freitag

Das Viertel rund um die Reeperbahn ist mehr als Fußball und Musicals – nämlich Prostitution

„Was fällt euch so zu St. Pauli ein?“, fragt sie an einem nasskalten Dienstagabend im Herbst und erntet erstmal Schweigen ihrer zwölf Gäste. „Reeperbahn“, bietet ein Franke auf Kurzbesuch irgendwann zaghaft an. „Fußball“, kommt sodann mit Kölner Akzent. Drei Badener sind wegen der „Musicals“ gekommen, bevor die Berlinerin das gewünschte Stichwort einwirft: Prostitution. „Ganz genau!“, lobt ihr Guide und schildert, worum es der Mittvierzigerin geht, auf ihrer Kieztour genannten Führung von Anwohnern für Auswärtige.

Hier gibt es nicht nur Junggesellen*innenabschiede, Musik und Fußball“, sagt sie über St. Pauli und nimmt einen Schluck Flaschenbier, „auch Armut, Prostitution, Punks, Gewalt und ganz gewöhnliche Menschen, die hier leben und arbeiten“.
Dani

Deshalb bittet Dani beim Verlassen des Wohngebiets Richtung Reeperbahn dringend, niemanden zu fotografieren. „Ihr seid morgen wieder weg.“ Pause. „Aber ich bin noch hier!“ Pause. „Und übermorgen auch.“ Überhaupt immer.

Ortskundige erklären Ortsfremden was wirklich abgeht

Das Prinzip alternativer Stadtführungen im Auftrag des St. Pauli Office, für das zwei Dutzend Guides laufen, lautet schließlich: Ortskundige erklären Ortsfremden ein Viertel, das zunächst mal Alltag bedeutet und nur aus Sicht von fast sieben Millionen Gästen, die 2017 in der Stadt waren, auch Sightseeing.

Fast sieben Millionen. Wieder drei Prozent mehr als im Vorjahr. Bei steigenden Übernachtungszahlen. Zumindest mit Elb-Blick droht der Hotspot Hamburg langsam überzulaufen. Noch nicht wie Barcelona und Venedig, aber wer weiß. Auch darum wollen Einheimische wie Dani möglichst vielen davon das multikulturelle Mischquartier in seiner dreckig glitzernden Vielfalt zeigen. „Die Leute kommen eh nach St. Pauli“, sagt die hauptberufliche Lehrerin mit (auch nicht unumstritten) Eigentumswohnung im sanierten Altbau. Falls sie nicht schon hier leben würde, räumt sie ein, „käme ich bestimmt selber hierher, um mir das mal anzusehen“.

© Jan Freitag

Hamburg hat überhaupt erst Charakter durch seine Brenn- und Kritikpunkte

Umso mehr ärgert es die Familienmutter mit dem ortsüblichen Stilmix aus Punkrock und Glamour, wenn die Jubler des Hamburg-Marketings ihre Stadt so kritiklos abfeiern, als gäbe es sie nicht – all die Brenn- und Kritikpunkte. Ohne die Basics touristischer Druckbetankung zu unterschlagen, biegt sie daher regelmäßig in die Schattenseiten der Glitzerwelt ab und quert die Reeperbahn manchmal nur, weil sie halt im Wege ist zwischen Großer Freiheit und Hans-Albers-Platz, Hamburger Berg und Hafenstraße. Verdrängung, Kommerz, Eventkultur – abseits einiger Standards vermittelt sie gerne Fakten jenseits der Hochglanzkataloge.

Doch wie viel diese Fakten mit der Historie des Viertels zu tun haben, macht das Ganze erst so richtig spannend.

Zwischen bürgerlicher Müllkippe und AIDA-Kreuzfahrtschiffen

Etwa, dass St. Pauli jahrhundertelang die Müllkippe bürgerlicher Selbstgerechtigkeit war, auf der die Pfeffersäcke alles Unliebsame abgeladen haben: Gestank, Nutten, Lärm, Gauner, Dampfschiffe, Matrosen, Gaukler, Suff und Ekstase – die Grundsteine des Amüsierviertels, von dem sich allerdings ziemlich rasch auch die arrogante Mittelschicht unterhalten und zur Sperrstunde wieder hinter sich ließ. So geht das im Grunde bis heute.

Gewiss, all das gibt es auch auf den 30 Doppeldeckerbussen zu hören, die eine Aida-Ladung nach der anderen vom Hafen zur Alster und zurückkarren. Von staatlich geprüften PR-Profis verabreicht, bleibt es jedoch oft oberflächlich, während die besorgte Empathie praxisgeschulter Nachbarn tiefer geht. Zu Herzen sogar. Wenn man sie lässt. Und viele lassen.

Selbst wenn Danis Kollege Daniell seine Kieztour bei besserem Wetter fragt, was der „Unterschied zwischen Touristen und Terroristen ist“ und selber antwortet, letztere hätten Sympathisanten, gibt es nur vereinzelt Ablehnung.

Auch, wer an diesem nasskalten Dienstagabend im Herbst mitläuft, weiß offenbar zu schätzen, abseits der Hochglanzbroschüren vom Fremden und Fremdartigen zu erfahren. Vom Leben in Prostitution und dem Kampf Homosexueller.

Dreckige, glitzernde Schönheit und Selbstakzeptanz

Hier fanden sie früher Schutz vor einer feindseligen Mehrheitsgesellschaft, die ja grad wieder mobil macht gegen Andersartige. St. Pauli hingegen, wo CDU und AfD selbst addiert nur knapp die Fünfprozenthürde nehmen, bietet ihnen weiterhin ein Refugium gegenseitiger Akzeptanz. Und davon erzählt Dani halt lieber als ihre Stadt im Superlativ zu feiern, den sie nicht verdient. Bei aller dreckig glitzernden Schönheit.

Zurück zur Startseite