#RIP: Tod, Trauer und die Sozialen Netzwerke
Ich habe 758 Facebook-Freunde. Einer von ihnen ist tot. Ben ist Anfang Juli an Krebs gestorben, da war er 31.
Mit Ben hat mich eine sehr typische Facebook-Freundschaft verbunden: Wir hatten uns ein paar mal an meinem letzten Arbeitsort getroffen, dann bin ich zurück nach Deutschland gezogen und wir konnten unsere Leben fortan nur noch über die Sozialen Netzwerke verfolgen.
Die letzte rosarote Filterblase platzt
Und ich erinnere mich noch ganz genau an diesen einen Tag im vergangenen Herbst, an dem ich nichtsahnend durch meinen Instagramfeed scrollte und zwischen Smoothie-Bowl, Sonnenuntergang auf Sri Lanka und schicker Inneneinrichtung auf einmal dieses Bild aufploppte: Ben im Krankenhausbett, an tausend Schläuchen hängend, aber trotzdem noch halbwegs lächelnd. Darunter ein paar Stichworte: Leute, gestern wurde bei mir Krebs diagnostiziert, Prognose nicht so rosig, aber so leicht kriegt er mich nicht!
Mein Scrolldaumen gefriert, ich starre auf das Bild und lese immer und immer wieder die zwei Zeilen Text. Ich lege das Handy weg, atme tief durch und versuche, meine Gefühle zu sortieren: Schock ist da, Trauer und Mitleid. Wut, weil das Leben so unfair ist.
Nach einer Weile bemerke ich noch so ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Mir wird klar: Es gibt nun auch online kein Entkommen vor dem kalten, nackten Boden der Tatsachen mehr. Mit Instagram fällt auch die letzte “Alles ist gut”-Bastion in meiner Filterblase. Stattdessen ist meine meistgenutzte App nun eine Warnung, eine konstante Erinnerung an die Unbarmherzigkeit des Schicksals und meine eigene Sterblichkeit.
Die tägliche Erinnerung: Was will ich mit meinem Leben machen?
Daran habe ich zu knabbern (und für diesen Egoismus will ich mich am liebsten Ohrfeigen), aber immerhin löst es auch etwas in mir aus. Etwas ziemlich großes. Ich erspare euch jetzt das “Lebe jeden Tag als wäre es dein letzter”-Geschwafel – schafft ja eh niemand. Aber persönlich habe ich seit diesem einen Tag im Herbst deutlich öfter überlegt, was ich eigentlich will: Womit und mit wem ich meine Zeit verbringe, wofür ich mein Geld ausgebe, ob ich den Menschen in meinem Leben oft genug sage, wie gern ich sie habe, und worüber es sich ja mal so gar nicht zu ärgern lohnt.
Durch Instagram ist diese Scheißkrankheit nämlich auch ein Teil von meinem Alltag geworden – und dabei bin ich Hunderte Kilometer weit weg und zähle nun wirklich nicht zu Bens engstem Freundeskreis. Aber gemeinsam mit seinen übrigen 400 Instagram-Followern erhielt ich nun regelmäßig Updates zum Therapieverlauf, ich schrieb aufmunternde Nachrichten, schickte einen Brief ins Krankenhaus und wünschte mir so, so sehr, dass es ihm bald besser geht.
Als seine Schwestern den Account übernahmen, schwante mir Böses. Es ginge ihm schlecht, schrieben sie, man solle gute Gedanken schicken. Doch die guten Gedanken reichten nicht. Neun Monate nach seiner Diagnose kleckerten die ersten #RIP-Posts in meine Timeline. Dem ersten habe ich nicht geglaubt, wollte ich nicht glauben. Beim zweiten wurde mir schlecht und als dann das Update seiner Familie kam, liefen die Tränen. Was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!
Was sagt man nochmal über geteiltes Leid? Eben.
Lange habe ich gezögert, ob ich meine Trauer auch öffentlich teilen “darf”. Wir waren gute Bekannte, nicht mehr, und ich hatte das Gefühl, dass alles Mitgefühl der Welt nun Bens Familie und besten Freunden zustand – auf jeden Fall nicht mir. Deswegen schrieb ich zunächst nur ein paar Absätze für mich, um das Ganze zu verarbeiten.
Als ich diese Texte dann doch in meiner Story teilte, war ich unendlich froh, meine Trauer nicht zensiert zu haben. Ich bekam Nachrichten von Menschen, die ich kaum kannte, die sich aber ähnliche Erfahrungen von der Seele schrieben. Ich bekam WhatsApp-Nachrichten von Freunden, die ihre Anteilnahme ausdrückten.
Ich war jetzt mit dieser dumpfen Traurigkeit nicht mehr alleine und mir wurde gleich ein wenig leichter ums Herz. Seitdem reagiere auch ich viel sensibler auf Posts von Freunden, die eine schwere Zeit durchmachen. Es braucht Mut, sich öffentlich verletzlich zu zeigen – und dann macht jede aufmunternde Nachricht einen Unterschied.
Sorgen, Kummer, Trauer: Das alles sind bestenfalls Randerscheinungen, meist aber Tabus in den Sozialen Netzwerken, die uns eine endlose Aneinanderkettung von schönen Momenten versprechen. Aber nur weil wir die negativen Gefühle von unseren Displays verdrängen, sind sie noch lange nicht aus unseren Köpfen und Herzen verschwunden. Und weil wir doch gerade bei diesen Themen die Kraft der Gemeinschaft brauchen, mein Appell: Traut euch, zu teilen. Traut euch, hinzusehen. Und traut euch, mitzufühlen.