Glaube, Liebe, Hamburg: Den Tod überleben

© Lisa Schleif

Unsere Autorin schreibt hier sehr ehrlich und ergreifend über das Thema Tod eines geliebten Menschen. Bitte seid euch dessen bewusst, wenn ihr diesen Text lesen wollt.

Es ist Donnerstag, der 20. Oktober. Die erste Vorlesungswoche ist fast vorbei und ich sitze im Hörsaal und warte auf deinen Anruf. 10:07 Uhr. Noch acht Minuten bis zum Vorlesungsbeginn. Genug Zeit, um von dir zu hören, dass sich dein mysteriöser Gnubbel an der Brust als Zyste herausgestellt hat. Nichts, das weiter von Bedeutung sein würde. Doch du sagst was Anderes. „Die Kacke ist am Dampfen, es sind Krebszellen gefunden worden.“ Stille. Ich nehme meine Sachen, gehe aus dem Hörsaal in Richtung Bahn, die Tränen laufen und ich will mich am liebsten in Luft auflösen und nie wieder über irgendetwas nachdenken. Der Kloß in meinem Hals wächst, ich habe Angst, zu ersticken. Die ganze Zeit über spreche ich mit dir, warte darauf, etwas Ermutigendes zu hören. Du bist seltsam gefasst. Nach dem ersten Schock fasse ich mich, aktiviere mit dir den Kämpfermodus. Ist bestimmt „nur“ Brustkrebs und wenn Angelina Jolie und Kylie Minogue ihn überlebt haben, schafft Mama das erst recht. Ist doch logisch.

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Aufgeben? Niemals.

Eine Woche später das nächste Untersuchungsergebnis – es ist Lungenkrebs. Erster bis zehnter Gedanke: Scheiße. Aber wir sind uns schnell einig gewesen, dass wir auch das irgendwie schaffen würden. Und dann ging’s los. Ich stand wie die Mutter aus „Wie beim Leben meiner Schwester“ in der Küche, täglich köchelten die gesündesten und nährstoffreichsten Speisen auf dem Herd, ich wurde Stammkunde im Reformhaus und generell drehte sich alles darum, in deiner Nähe zu sein oder etwas für dich zu tun.

Ob Blutentnahme, Arztgespräch oder Chemo – ich habe dich zu jedem Termin begleitet, war fast jeden zweiten Tag bei dir. Eine Operation war erst einmal nicht möglich und die so vielversprechende Immuntherapie ist bei deiner Tumorart nicht möglich. Halb so wild, dann halt die Chemo. Aufgeben? Dieses Wort kam uns nicht einmal in den Sinn.

© Lisa Schleif

Drei Tage nach deiner ersten Chemo klingelt mein Handy. Du rufst mich an. Über Whatsapp Call? Das ist bestimmt mein kleiner Bruder, der mal wieder dein Handy stibitzt hat. „Mama ist umgekippt!“ Ich beame mich von Rothenburgsort nach Tonndorf. Der Notarzt ist schon wieder weg. Niedriger Blutdruck, meinte er. Halb so wild. Kann nach einer Chemo Behandlung vorkommen, meinte auch der Onkologe. Okay, durchatmen und weitermachen. Trotzdem liegst du diesen Nachmittag weinend in meinen Armen und ich spüre, dass du Angst hast. Und das macht mir Angst. Aber ich sage nichts, ermutige dich, mache uns erst mal einen Kaffee.

Eine Woche später klingelt wieder mein Handy. Whatsapp Call. Kloß im Hals.  „Mama ist wieder umgekippt, sie kann nicht mehr sprechen!“ Schuhe anziehen, los. Aber wohin? Nachhause? Ins Krankenhaus? Ins Krankenhaus. Notaufnahme. Schlaganfall, halbseitige Lähmung, Störung des Sprachsystems. Not OP.  Vier Stunden warten. Nicht erfolgreich. Intensivstation. Drei Wochen jeden Tag zu dir ins Krankenhaus. Palliativstation. Dich ein letztes Mal sehen. Deiner leblosen Stirn einen letzten Kuss geben.

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"Heute wäre der Tag gewesen."

Das Jahr ist vorbei, Menschen haben Weihnachten gefeiert, Menschen haben Silvester gefeiert. Heute ist der 17. Januar. Heute wäre der Tag gewesen. Heute hätten wir um 11 Uhr angespannt im Wartezimmer gesessen und darauf gewartet, dass dein Arzt uns aufruft. Tumorkonferenz. Du hättest bereits drei Chemos und eine weitere CT hinter dich gebracht, welche uns verraten hätte, wie dieses Arschloch von Tumor sich in deiner Lunge entwickelt hat. Aber wir haben lieber Erdbeere dazu gesagt, und es war definitiv an der Zeit, dieses Erdbeerfeld in dir zu pflücken. Doch dazu kams nie.

Stattdessen sitze ich vor meinem Laptop und versuche einen Bestatter zu finden. Wer kann denn ahnen, dass die richtige Wahl des Bestatters mindestens genauso schwer ist, wie sich für den richtigen Sushi Lieferservice zu entscheiden? Gutscheine hier, Angebote da. Scheiße. Wer kann denn ahnen, dass eine Bestattung verdammt teuer ist? Wer kann verdammt nochmal ahnen, dass man Todesurkunden bezahlen muss? Und wieso nennt sich das überhaupt Urkunde? Ich will kotzen. Halbwaisen – mein Bruder und ich sind jetzt Halbwaisen. Erbe annehmen? Erbe ausschlagen? Was passiert mit der Wohnung? Was mit deinem Auto? Wo soll die Seebestattung stattfinden?  Haben wir einen Anspruch auf Halbwaisenrente? Und muss ich das Kindergeld jetzt neu beantrage? Außerdem: schnell einen Kinderpsychologen für meinen Bruder finden, Gespräche mit Lehrern führen, für ihn da sein. Eine große Schwester sein. Fragen beantworten, auf die ich keine Antwort weiß. Stark bleiben, eine große Schwester sein. Für mich selbst einen Psychologen finden. Gespräche führen. In die Uni gehen. Irgendwie schaffen, mich zu konzentrieren und kurze Zeit nicht an dich denken. Klappt so semi-gut.

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"Trauerarbeit, was für ein dummer Begriff."

„Nehmen Sie sich Zeit“, sagt meine Psychologin und ich nehme mir fest vor, das auch zu tun. Ein Semester Pause machen? Kann ich nicht, will ich nicht. Sie erzählt etwas von Trauerarbeit. Trauerarbeit, was für ein dummer Begriff. Trauer nicht unterdrücken, Gefühle zulassen, darüber reden. Das mache ich. Oder? Das Leben muss schließlich weitergehen, auch, wenn sich in nächster Zeit vieles sinnlos anfühlen wird. Dir würde es nicht gefallen, wenn wir den Kopf in den Sand stecken und uns zu Negativnasen entwickeln. Du bist jetzt unser Schutzengel, qualmst mit Bob Marley auf einer flauschigen Wolke und rotzt allen Menschen auf den Kopf, die wir scheiße finden. Und wehe, du hältst keinen Platz auf deiner Wolke frei.

Einige Tage vergehen schnell und tränenlos. Oft schaffe ich es, alleine zu sein, ohne durchgehend zu heulen. Ich schaffe es, zu Lächeln, wenn ich an dich denke. Andere Tage hingegen verbringe ich mit einem gefühlt tennisballgroßen Kloß im Hals, der zu platzen droht, sobald ich an deinem Parfüm rieche oder einen deiner Pullover trage. Cat Stevens Musik hören, ohne sentimental zu werden? Ein Ding der Unmöglichkeit. Du hast seine Musik gehört, während du mit mir schwanger warst. Wild World summe ich daher schon mit, seitdem ich ein Embryo bin. Ich kann allerdings schwer glauben, dass einer seiner Songs nur durch Zufall Sad Lisa heißt und mir ausgerechnet dieses Lied bisher nicht bekannt war. Videos, auf denen deine Stimme zu hören ist? Das ist wohl der Endboss. Die Gewissheit, diese Stimme nie wieder, in meinem wahrscheinlich noch Jahrzehnte langen Leben, live zu hören, schmerzt zu sehr. Noch. Vieles wird wahrscheinlich leichter werden, ich bin schließlich nicht der einzige Mensch auf Erden, der einen geliebten Menschen verliert und die sind aller früher oder später wieder alltagstauglich geworden. Ich muss mir nur klar darüber werden, dass das keinesfalls bedeutet, dich zu vergessen. Denn das werde ich niemals.

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