Der Alltagskiez – Leben zwischen Waffenverbot und Kirmestechno
Zuhause. Wenn man sich so fühlt, beheimatet irgendwie, geborgen, manchmal vielleicht fast glücklich, dann hat das oft Tausend Gründe mehr als die Herkunft. Jozi Sustar zum Beispiel kommt aus Slowenien als es noch jugoslawisch war. In seinem Friseursalon zeigen ihn Fotos beim Skifliegen, Turmspringen, Tischtennisspielen. Alles schwarzweiß, alles Disziplinen, in denen Pepi – wie ihn fast 60 Jahre später jeder hier nur nennt – zu den Besten.
„Schöne Zeit“, sagt er mit über 80 noch immer täglich bei der Arbeit und zeigt mit großer Geste durch seinen Friseursalon auf die Bilder von einst. Kinderstube, Elternhaus, Jugendzimmer, Sportinternat – alles warme Erinnerungen. Aber zuhause? Pepi lächelt. „Zuhause bin ich hier.“ In der Seilerstraße. Zwölf Quadratmeter Heimat, wo andere eskalieren. Zumindest am Wochenende.
An den vier Tagen davor jedoch, das wissen nur wenige der Eskalierenden, das wissen ja nicht mal alle Nachbarn der umliegenden Bezirke, gehört der Kiez Menschen wie Pepi, ob eingeboren oder zugezogen. Knappe 25.000 gibt es von denen. Sie wohnen hier, arbeiten hier, leben hier auch, wenn die Jungesellinnen wieder auf ihrem Dorf sind und die Flatratesäufer zurück im Umland.
Heimat im Hin & Her
Den ewigen Schichtwechsel hat Hamburgs Orchesterpopstar schlechthin mal in ein ergreifendes Lied übersetzt. „Samstagnacht komm‘ sie von überallher“, singt Bernd Begemann in Oh St. Pauli, „Sonntagmittag bist du wieder menschenleer. Wie hältst du’s nur aus, dieses Hin und Her?“ Die Antwort geben Leute wie Pepi.
In einem Quartier, das nach 400 Jahren gewöhnlicher Behausung schon Mitte des 17. Jahrhunderts zum Amüsierviertel wurde und nie mehr etwas anderes war, wirkt das ein wenig seltsam. Aber so hört man es auch jenseits der Reeperbahn, die Lincolnstraße runter Richtung Elbe. Hier sitzt Harald Buers hinterm Tresen des „Nobiskrug“ und zapft das erste Pils für Tagediebe, kein letztes für Nachtschwärmer.
„Älteste Schankwirtschaft auf St. Pauli“ steht über der Tür, daneben eine Zahl: 1895. Klingt nostalgisch, vor allem aber klingt es stolz. „Bei mir sitzen nur echte St. Paulianer“, sagt der Wirt und zeigt auf ein Dutzend Frühschoppengäste, die im Dunst Tausender Zigaretten den Tag begrüßen.
Zuhause am Tresen
Sie reden nicht viel, das Klischee lebt. Doch zwischen Bildern einer Epoche, als vorm Nobiskrug noch Matrosen flanierten, reicht auch jetzt nur ein Wort zur Beschreibung dieses Biotops. „Zuhause“, sagt ein Thekeninventar ungefragt. Er lächelt nicht. „Is‘ Tatsache.“ Man kommt ihr rings um die Partymeile überall auf die Spur.
Aus dem Dunkel der Elbschlosskellers etwa treten zwei Rentner ans Tageslicht und gehen klönend gen Davidwache, auf der es alltags ruhiger ist als auf dem jüdischen Friedhof jenseits der Holstenstraße. Im Salon Harry gegenüber, wo die Beatles gerahmten Fotos im Schaufenster zufolge einst Pilzköpfe wurden, plauscht die Friseurin angeregt mit einer Kundin. Haareschneiden? Mal langsam! Und auch im Emma-Markt kurz vorm saturierten Wohnprojekt der Hafenstraße geht es eher gemütlich als geschäftig zu.
Am Wochenende sind hier 90 Prozent Touristen und 10 Prozent HiesigeIris Stoppa
Äußerlich bloß ein weiterer Kiosk, zeigt sich im Inneren der letzte Lebensmittelladen weit und breit. Es gibt zwar auch den üblichen Billig-Alk fürs Feiervolk, aber von Windeln bis Gemüse, von Waschmittel bis Obst entspricht das Angebot dem Edeka am Nordrand des Kiezes in klein. „Am Wochenende sind hier 90 Prozent Touristen und 10 Prozent Hiesige“, weiß Verkäuferin Iris Stoppa nach zwölf Jahren an der Kasse, „alltags ist genau umgekehrt“.
Auch beim „Kiezbäcker“ an der Silbersackstraße erhöht sich der Anteil Ortsfremder von Freitag bis Sonntag drastisch. „Aber selbst dann“, meint Thomas Angele mit schwäbischem Restakzent, „versorgen wir vor allem Anwohner“. Und das war vor 25 Jahren, als er sein Geschäft in einem Sexshop eröffnet hat, auch bitter nötig. Der Konditormeister erinnert sich noch gut: „Es gab hier damals ja nirgends ein Frühstücksrestaurant.“
Es gab. Die zwei Worte fehlen in kaum einer Zustandsbeschreibung und meist klingt es ein bisschen seelenwund. Gut, es gibt zwar noch Institutionen wie das Guitar-Village neben dem Budni in der Talstraße. Und wie sich das Tanzschuhhaus schräg gegenüber seit Jahrzehnten hält, müsste man mal Ingo Dick fragen, aber vormittags ist zu.
Es gab die Kieztanke. Es gab die Essohäuser. Es gab auch Armut, Zuhälterei und Bandenkriminalität. Aber eben Infrastruktur für alle, statt Kioske fürs Vorglühen.Jan Freitag
Was es allerdings nur gab, ist das Café Möller an der Großen Freiheit, wo rüschenbeschürzte Damen 59 Jahre lang Torte zu Kännchen servierten, bis die doppelte Miete einen Pub hineinspülte. Es gab die Kieztanke. Es gab die Essohäuser. Es gab auch Armut, Zuhälterei und Bandenkriminalität. Aber eben Infrastruktur für alle, statt Kioske fürs Vorglühen. Und es gab Menschen, die das Viertel mit und ohne Rotlicht prägten. Leute mit Bindestrichnamen wie Silbersack-Erna, Schlemmereck-Herbert, Doppelkorn-Dieter.
„Ich werde immer älter und andere sterben jünger“, sagt Pepi in seinem Salon voller Fotos vergangener Zeiten, „aber ich bleibe“. Es klingt weder traurig noch trotzig, sondern einfach wie einer, der dort ist, wo er hingehört. „Wie immer Pepi“, sagt ein ähnlich alter Kunde und setzt sich unter das Bild mit der Straßenbahn, die allen Ernstes an Pepis Ladentür vorbeifährt. Ein halbes Jahrhundert ist das her. Hier fühlt es sich gar nicht so fern an.