11 neue Romane für den Herbst

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Herbstzeit heißt Bücherzeit heißt: Zeit eure kleinen, grauen, verschrumpelten Gehirnzellen wach zu pusten. Dafür haben wir Netflix ausgeschaltet, sind ein paar Kilometer südwärts zur Frankfurter Buchmesse gewandert und haben Bücher erlegt. Welche Romanfiguren euch innig provozieren, zutiefst amüsieren und eure Gefühls-DNA in Wallung bringen könnten das lest ihr hier:

1. Für Süchtige – die letzte Entführung in die Pariser Echtwelt

© Pixabay / Kiepenheuer&Witsch Verlag

Virginie Despentes beendet die Trilogie um ihren Helden Vernon Subutex, den abgerockten, obdachlosen Plattenverkäufer. Im dritten und letzten Teil ihrer Reihe führt die französische Autorin ihre Figuren in das Frankreich der Attentate vom 13. November 2015 – mitten ins Herz eines gesellschaftlichen Traumas. Die Gruppe um Vernon hat Paris verlassen und lebt an wechselnden Orten auf dem Land. Dort werden angesagte Raves abgehalten, zu denen man aber nur mit persönlicher Empfehlung zugelassen wird. „Tout Paris“ versucht, für diese Nächte eine Einladung zu ergattern. Misstrauen und Eifersüchteleien nehmen zu, die Gruppe zerfällt. Es folgen die Attentate von Paris – und die Stimmung kippt vollkommen. Eine Entführung in die raue Pariser Echtwelt, beschrieben in einer mitreißenden, direkten Sprache.

Virginie Despentes: „Das Leben des Vernon Subutex 3“, Kiepenheuer&Witsch Verlag, 2018

2. Für Nicht-Klischee-Liebhaber – Teenager verliebt sich in Bungalow-Millionärspaar

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Bungalows. Diese starrt die zwölfjährige Charlie tagein, tagaus an. In den Bungalows wohnen Menschen-Millionäre mit money, money, money. Must be funny. Charlie selbst gehört zur anderen Seite der Straße.  Zu den „Zeilenbauten“, für die man „kein Geld, sondern einen Wohnberechtigungsschein“ braucht. Die Mutter ist Trinkerin, kaum klare Momente, permanent pleite. Eines Tages zieht in den Bungalow von gegenüber ein Paar aus der Kulturschickeria ein. Charlie ist fasziniert, verliebt sich. Künftig richtet der Teenager alles darauf aus, irgendwie die Aufmerksamkeit der beiden zu bekommen. Katastrophaler  Unfall, Messer im Lungenflügel - keine Idee scheint zu extrem, um nicht getestet zu werden. Milieustudie? Deutschlandroman? Science Fiction? Ist das das echte Leben? Ach, was kümmern denn die Genres! Mit ihrem dritten Roman entführt Helene Hegemann in eine intensive Geschichte, frisch und frei von Klischees.

Helene Hegemann: Bungalow, Hanser Berlin, 2018

3. Für Reisende – ein georgisches Internat und seine rebellischen Mädchen

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Sie gibt rebellischen Mädchen und Frauen der georgischen Gesellschaft in Filmen ein Gesicht. Einen Film durfte Nana Ekvtimishvili nicht drehen – und zauberte aus dem Stoff kurzerhand ein Buch. Es ist eine gewalttätige Welt, in die uns die georgische Autorin hineinkatapultiert. Georgien, 1990er-Jahre: Das Land versinkt im Chaos, Mütter verlassen ihre Kinder. Im Internat für geistig behinderte Kinder in Tbilissi, einem Relikt aus Sowjetzeiten, sind die Kinder den Erzieherinnen und sich selbst ausgeliefert. Die Lehrerinnen sind mit den „Debilen“ überfordert. Lela ist die Älteste von ihnen. Trotz all der täglichen Brutalität bewahrt sich das zarte Mädchen einen inneren Kompass von Gerechtigkeit und wird zur Beschützerin. Der Geschichtslehrer muss sterben, die Kinder sollen über das Birnenfeld in die Freiheit rennen – so Lelas Plan. Ein menschlich anrührender Roman über den Zusammenhalt der Verlorenen.

Nana Ekvtimishvili: „Das Birnenfeld“, Suhrkamp Verlag, 2018

4. Für „alle, die was mit … machen“ – eine 22-Jährige im Zickzackkurs

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Bethany, 22, hat ihr Literaturstudium geschmissen. Zukunftsziel: „Irgendwas mit Kunst“. Schauspielerin, Fotografin oder Sushi-Köchin? Berufsfantasien hat die junge Frau zahlreiche, keine verfolgt sie konsequent. Dennoch erdichtet sich die Wannabe-Lebenskünstlerin mit Hang zum Prokrastinieren immer wieder ein neues „Ich“. Lässig, lustig, sarkastisch entlarvt William Boyd das Spiel um die Identität und die Rollen, die Menschen in ihrem eigenen Leben spielen. Wo beginnt der Eigenbetrug? Was kostet es, sich nicht zu entscheiden? Und was hat es eigentlich mit der Devise „Du musst nur fest an dich glauben“ auf sich? Kurzweilige und urkomische Lektüre. Für alle, die „irgendwas mit … machen“.

William Boyd: „Alle Wege, die wir nicht gegangen sind“, Kampa Verlag, 2018

5. Für Langschläfer – bitte ein Jahr durchschlafen!

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Ein Buch, in dem der Protagonist ein Jahr lang schläft. Das hat Stil. Der Spiegel schreibt: „Dürfte so spannend sein wie der Akt selbst - zumindest bei herkömmlichen Autoren. Nicht aber bei Moshfegh. Im Gegenteil: ‚Mein Jahr der Ruhe und Entspannung‘ ist so etwas wie der ereignisärmste Page Turner der letzten Jahre. Alles und jeder darin ist unglaublich dröge und trostlos - und trotzdem maximal fesselnd.“ Die namenlose Erzählerin in Ottessa Moshfeghs drittem Roman ist gerade 26, lebt im Überfluss und hasst die Welt dafür. Deshalb geht sie mit Dämmerpillen ins häusliche Exil.  Ziel: Den ganzen Tag schlafen und zu einem neuen Menschen werden. Der Roman denkt eine krasse Idee so konsequent makaber und erschütternd durch, dass der Leser dabei fast aufs Glatteis gerät: Warum lache ich gerade bitte über diese Geschichte? Bin ich ähnlich abgestumpft wie die Protagonistin?

Ottessa Moshfegh: „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“, Liebeskind Verlag, 2018

6. Für Ferrante-Fans – eine Mutter-Tochter-und-Frauen-an-sich-Geschichte

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Elena Ferrante löste mit ihrer Neapel-Tetralogie einen weltweiten Hype aus. Nun ist auch ihr Debütroman „Lästige Liebe“ in einer neuen Übersetzung auf dem deutschen Markt – ein Vierteljahrhundert (!) blieb der Roman weitgehend unbeachtet. Wieder Neapel. Wieder zwei Frauen. Und eine verworrene Gedankenwelt. „Lästige Liebe“ zeigt, dass Elena Ferrante auch fast 20 Jahre vor „Meine geniale Freundin“ und co. eine Vorliebe für diese Themen hatte. Es beginnt wie ein Thriller: Amalia sollte ihre Tochter Delia besuchen. Stattdessen erhält Delia drei Telefonanrufe. Beim ersten sagt ihr die Mutter, sie könne nicht offen reden, ein Mann sei bei ihr. Beim zweiten überschüttet die Mutter ihre Tochter mit einem Schwall von Obszönitäten in Dialekt. Beim dritten erzählt sie von einem Mann, der sie bedrohe. Am nächsten Tag wird der Leichnam der Mutter an einem Strand gefunden. Che cosa è successo? Was ist da passiert?

Elena Ferrante: „Lästige Liebe“, Suhrkamp Verlag, 2018

7. Für (Selbst-)Optimierer – ein Kind bekommen, aber ohne Nebenwirkungen

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Ada hat einen erfüllenden Job im Amt für Gesellschaftserweiterung. Sie castet Menschen, die der positiven Entwicklung der Gesellschaft dienen könnten. Yves ist Künstler, ins Land integriert, um einen kulturellen Beitrag gegen Rechtspopulismus zu leisten. Das Paar wünscht sich ein Kind - aber nicht auf dem herkömmlichen Weg. Eltern sein und den Alltag als Familie meistern? Für Ada eine abschreckende Vorstellung. Um ihr unabhängiges Leben nicht aufgeben zu müssen, entscheiden sich Ada und Yves für eine Elitekinderaufzucht. Das „Weiße Schloss“ bietet das Rundum-sorglos-all-inclusive-Paket aus dem Katalog. Hier leben Leihmütter, die für andere Paare Kinder gebären und sie aufziehen. Es wird Wert auf „Fair Trade“ und „Bio“ gelegt. Ada und Yves können ihr Kind jederzeit besuchen - doch wird das reichen? Christian Dittloffs Zukunftsroman denkt den Optimierungswahn Zeile für Zeile weiter.

Christian Dittloff: „Das Weiße Schloss“, Berlin Verlag, 2018

8. Für Jung, Alt und Medium – Roadtrip vom jungen Mann, der Elsa kennenlernte

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Wolf Haas gönnt seinem Krimihelden Brenner eine Atempause und fährt 2018 mit einem Coming-of-Age-Roman auf. Der „junge Mann“ ist zwölf, 93 Kilo schwer und - als er bei einem Ferienjob an der Tankstelle auf Elsa trifft – heftigst verknallt. So verliebt, dass er beschließt, abzunehmen. Dass das Gewicht nicht sein größtes Problem ist, erfährt der Leser nebenbei. Elsa ist schon 20 und bereits mit Dorfheld Tscho verheiratet. Egal. Der junge Mann glaubt, dass alles schon wird, wenn die Kunden an der Tankstelle ihn doch bloß nicht mehr mit einem jungen Fräulein verwechselten. Ein Roadtrip zum Erwachsenwerden mit Haas-typischen Sätzen wie „Rückwärts durch die Knie betrachtet war die Welt immer am interessantesten.“

Wolf Haas: „Junger Mann“, Hoffmann und Campe Verlag, 2018

9. Für Gesprächige – Klappe zu und Stimmen lauschen!

© Pixabay / Hanser Berlin Verlag

Schon von Paulstadt gehört? Noch nicht? Kein Problem, schlagt einfach Robert Seethalers neuestes Werk auf. Das macht Leser fast zu Mitbürgern dieser Kommune, lernen sie doch 29 Stadtbewohner kennen – die allesamt tot sind. Auf dem Friedhof von Paulstadt, dem „Feld“, sitzt jeden Tag ein alter Mann auf einer Bank und überlegt, was die Toten ihm erzählen würden, könnte er ihre Stimmen vernehmen. Während er abends nach Hause geht, beginnen sie schließlich zu plappern, die Toten: Die Ältesten erinnern sich an den zweiten Weltkrieg und Fluchterlebnisse. Der Gemüsehändler berichtet von ausländerfeindlichen Parolen.  Der verstorbene Vater gibt seinem Kind noch Tipps mit ins Leben: „Die wenigsten Alten sind weise, die meisten sind einfach nur alt.“ So entsteht Kapitel für Kapitel ein Porträt und das Stimmengewirr einer Kleinstadt. Mit jeder Erzählung verknüpfen sich die Beziehungen, Abhängigkeiten, Lieb- und Gegnerschaften, so dass aus den Stimmen plötzlich Kollegen, Freunde, Zeitgenossen werden. Ein prickelnder Roman über das Leben, wie es sein oder gewesen sein könnte. In Paulstadt oder anderswo.

Robert Seethaler: „Das Feld“, Hanser Berlin Verlag, 2018

10. Für Sprach-Lover – Buenos-Aires-Geschichte mit Alltagshelden und Heldensprache

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An alle Wortspielhaber. Oder –liebhaber? Maria Cecilia Barbetta erkundet in ihrem zweiten Roman das Städtchen Ballester am Rande von Buenos Aires. 1974, der gestürzte Präsident Juan Perón hat wieder die Macht übernommen. Der Blick fällt auf liebenswerte Alltagshelden: Die junge Tereza, die mit einer Wandermadonna die Welt retten will oder der Pensionsbesitzer Nasif, dessen Aussehen bei kleinen Kindern für bleibende Traumata sorgt. Heldenhaft unterhaltsam ist auch Barbettas Sprache. So tummeln sich in „Nachtleuchten“ wunderschöne Wortspiele, wie ein Pensionsschild, das durch den Verlust des großen Z nun „immer frei“ ist. Die Welt, in die der Leser da hineinstolpert, ist die der südamerikanischen Romantradition: Stadt, Raum, Politik, Geschichte und Alltag verknüpft Barbetta zu einem dichten menschlichen Spinnennetz.

Maria Cecilia Barbetta: „Nachtleuchten“, S. Fischer Verlag, 2018

11. Für Feminist*innen – „Wir brauchen mehr Geschichten!“ 

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Chimamanda Ngozi Adichie. Sie könnte auch Lieschen Müller heißen, die nigerianische Autorin kann man nicht überlesen. Ok, ok. Ertappt. Von Adichie gibt es dieses Jahr gar kein neues Buch. Aber nach ihrer flammenden Eröffnungsrede der Frankfurter Buchmesse, hat sie sich nun einfach auf diese Liste schleichen müssen. „Wir brauchen eine große Bandbreite von Stimmen“, sagte Adichie. „Wir brauchen mehr Geschichten, um der Welt ins Gesicht zu sehen.“ Spätestens in ihrem dritten Roman „Americanah“ versteht man, was sie mit ihrem legendären TED-Talk „The Danger of a Single Story“ wollte. Bei Adichie sind Schwarze nicht nur schwarz, Frauen nicht nur Opfer. Wir brauchen mehr Geschichten? Ja, die Geschichten von Adichie!

Chimamanda Ngozi Adichie: „Amerikanah“, S. Fischer Verlag, 2014

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