Punk, Schnorrer, Mensch: Die drei Angler an der Sternschanze

© Kevin Goonewardena

In seiner Kolumne "Absolute Giganten" macht Kevin Goonewardena alle zwei Wochen Hamburger Typen und Geschichten erlebbar, die der erste, flüchtige Blick oft nicht erfasst. Eingefangen an Orten, die wir zwar alle kennen, für die wir jedoch nicht den Mut, die Courage oder die Verzweiflung besitzen. "Absolute Giganten" ist der stille Beobachter, der die Geschichten der Stadt und ihrer Menschen findet und zu Papier bringt.

Hamburg, S / U Sternschanze. So viele blau-silberne Kleintransporter wie Menschen, die sich nicht beirrend aus den Stationen aufmachend ihrem Nachmittag nachgehen. Ein Ordnungshüter pro Einwohner - der feuchte Traum eines jeden Sicherheitsfanatikers ist hier seit einer Woche zur nie gewollten Realität geworden. Wenn auch nur zu einer temporären. Während das gelbe-M zierende Sinnbild des Kapitalismus heute erst gar nicht öffnete, gehen dessen Gegner unbeirrt dem Zwang nach, von der auch sie sich nicht frei machen können: Sie treiben Geld auf.

Auch einen Tag vor dem offiziellen Start des G20-Gipfels und wenige Stunden vor der „Welcome to Hell“-Demo, können die wenigen Passanten eine untrennbar mit der Schanze verbundene Eigenart sehen: Die mit einer selbstgebauten Becherangel Ausgerüsteten, die sich selbst nicht allzu ernst nehmend, freundlich grüßend um ein paar Cent bitten.

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Organisiert statt chaotisch

„Wir sind ein Kreis von ungefähr 20 Leuten“, erzählt mir Sascha, 21, aufgewachsen in einem Münchener Heim, geboren ebenfalls in Bayern, in Passau um genau zu sein. „Jeden Tag eine andere Zusammenstellungen, je nachdem wer will, wer es nötig hat.“ Wann das anfing, an diesem Platz, auf diese Art und Weise, das weiß er nicht. „Aber ich kann dir sagen, dass hier auch schon vor fünf Jahren geschnorrt wurde.“

Übersetzen die Meisten den Begriff „Schnorren“ wohl angewidert mit „Geld aus der Tasche ziehen“, scheint der Gebrauch hier eher szenebedingter Gewohnheit zu entspringen und erst Recht nicht gelebt, wie man vermuten könnte. Im Gegenteil: „Es gibt klare Regeln, zum Beispiel werden Kinder nicht angesprochen oder Familien mit Kindern. Das gehört sich einfach nicht. Es gibt aber dann auch wiederum genug Leute, die Geld noch dringender brauchen als wir. Wenn wir mit denen ins Gespräch kommen, dann bieten wir denen auch an, etwas aus dem Becher zu nehmen.“ Wie dem Passanten, um die 50, mit Sonnenbrille und Shorts, der abwiegelnd und zufrieden erwidert: „Irgendwie kommt man immer durch“.

Aufgeteilt wird fair unter denen, „die sich vorher zum Schnorren angemeldet haben“, verblüfft mich die Gruppe, selbst als Mitschnorrer, wie sie es nennen, müsse man sich vorher mit den anderen absprechen.

Die drei von der Sternschanze

© Kevin Goonewardena

Heute halten Sascha, Liam und Mo vorne am Rand des Stromverteilerkastens die Stellung, also die Angel. Von Aggressivität keine Spur, gepöbelt wird nicht. „Solche Leute wie der von eben“, Liam verweist auf einen Bekannten, der sich vor einigen Minuten pöbelnd und offensichtlich besoffen mit der Gruppe unterhielt, „sind hier nicht gerne gesehen. Die passen nicht hier hin.“

Mit gerade einmal 15 dürfte Liam einer der Jüngsten sein, nicht nur an diesem Tag. Normalerweise besucht er eine christliche Privatschule, deren Besuch „mit 80 Euro im Monat vom Staat subventioniert wird.“ Ein Widerspruch? Mitnichten. Der Ausbruch aus der Wirklichkeit wohl eher, noch nicht mal gepaart mit jugendlichen Flausen und erst Recht keiner Selbstdefinition als Punk, wie ich später erfahre. Eine Durchgangsstation ist dieser Ort nicht nur für Liam, den gebürtigen Hamburger.

Den alten APPD-Slogan „Arbeit ist scheisse“, sieht und hört man zumindest hier nicht. Im Gegenteil – geschnorrt wird, weil es die Lebenssituation notwendig macht und nicht aus Prinzip und über die Notwendigkeit entscheidet jeder selbst. Einen Schulabschluss hat Sascha zwar schon, weiterbringen wird der ihn jedoch eher kaum.

Saschas Lebensverlauf verhält sich konträr zu Liams: 16 Jahre im Heim gewohnt, der Vater noch vor der Geburt abgehauen, die Mutter 2008 mit 45 an einer Überdosis Heroin gestorben. Keine Pflegeeltern, dafür Betreuer als Elternersatz. „Die haben mir versucht alles zu ermöglichen, auch heute helfen sie mir noch – wenn ich mich melde.“ Er lacht. „Die wollen einfach wissen, dass ich noch lebe.“ Der Kontakt sei nach wie vor da. Einen gesetzlichen Betreuer in Hamburg hat Sascha auch „Eine Ausbildung ist mit meiner 80-prozentigen Behinderung nicht möglich“ und gibt mir eine wage Vorstellung von dem, was er meint, „meiner seelischen Behinderung.“

Er erzählt mir von seiner ADHS-Diagnose und dass er vor einiger Zeit das Ritalin abgesetzt habe - seitdem gehe es besser, so Sascha. Auch er möchte nicht für immer auf die Einnahmen hier angewiesen sein. „Aber erst einmal muss ich meine Schulden bei der Bahn abbezahlen. Vor ein paar Jahren waren das knapp 17.000, weil ich über Jahre Schwarzgefahren bin und nie gezahlt habe. Irgendwann haben sie mir mit Knast gedroht, seitdem zahle ich in Raten“ und rechnet vor „200 Euro am Anfang des Monats an die Bahn, Mitte des Monats gibt es dann 213 Euro Kindergeld.“ Sein Auskommen, vor allem Hartz4 und sein Anteil aus dem Becher kommen dazu.

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Bis der Soziale-Arbeit-Studiengang beginnt und das BAFÖG fließt, wird auch Mo aus Dortmund öfter hier sitzen. Sein zotteliger, gefärbter Iro, seine Piercings und seine Warnweste machen ihn zur auffallendsten Erscheinung der Gruppe. „Ob ich mich als Punk sehe? Ich mag Punk, ja. Wenn ich mich definieren müsste, dann als Anti-Nationalist mit antideutschen Tendenzen. Aber in erster Linie bin ich einfach nur Mensch.“

In Dortmund am Hauptbahnhof habe er den Kids schon geholfen, später möchte er das durch das Studium auch staatlich anerkannt machen können. „Dort kam es auch einmal zu einem Zwischenfall“, erzählt Mo, angesprochen auf Reaktionen von Passanten. „Der lag schon am Boden, bevor ich realisiert hatte, dass ich getreten wurde. Da zeigt sich der Zusammenhalt der Straße. Man passt hier aufeinander auf.“ Ansonsten sei es eher ruhig, hier und da würde man mal angepöbelt werden, Gewaltausbrüche gebe es allerdings nicht - genauso wenig wie große Diskussionen. „Aber jeder ist da auch anders. Dem einen geht es näher als dem anderen, wenn er als Schnorrer oder als Faules Pack betitelt wird, oder wenn es heißt „Geh Arbeiten.“

Lebensbejahend

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Was sich noch zeigen würde, auf der Straße, sei „das Leid der Leute, die Geschichten, die sie erzählen.“ Mo, Liam, Sascha – erfahrenes und ertragenes Leid sind hier so individuell, wie bei jedem anderen - jedem Passant, jedem/jeder LeserIn dieses Textes. Die Notwendigkeit zu betteln übertrieben klingend in den Ohren der einen, nachvollziehbarer für andere. Den Leuten, oder dem Staat, auf der Tasche liegen tut hier keiner gerne. Wertschätzung und Respekt wird ob der eigenen Situation dennoch nicht vergessen.

An der Schanze sei es friedlich, an anderen Orten in der Hansestadt allerdings nicht. Die meide man, erzählen die Jungs. Auch Probleme mit anderen Hilfsbedürftigen habe man nicht „Die Berber sind ja vor allem in der Innenstadt unterwegs, oder auf dem Kiez. Dort schnorren wir nicht, unser Platz ist hier. So kommt man sich nicht in die Quere.“ Und Liam ergänzt: „Auch in der S-Bahn würde ich nicht betteln. Was sollte ich denen mit meinem Hintergrund auch schon erzählen? Und anlügen möchte ich niemanden.“

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