Crack, Pisse und Gottesanbeter: 6 Stunden am Hamburger Hauptbahnhof
In seiner Kolumne "Absolute Giganten" macht Kevin Goonewardena alle zwei Wochen Hamburger Typen und Geschichten erlebbar, die der erste, flüchtige Blick oft nicht erfasst. Eingefangen an Orten, die wir zwar alle kennen, für die wir jedoch nicht den Mut, die Courage oder die Verzweiflung besitzen. "Absolute Giganten" ist der stille Beobachter, der die Geschichten der Stadt und ihrer Menschen findet und zu Papier bringt.
„16 Jahre bin ich auf Crack, zwischendurch sieben Jahre clean, hatte ‘nen Freund, eine Wohnung in Niedersachsen, nun bin ich wieder hier. Was willst du machen, wenn du nichts anderes kennst ?!“ Jaqueline puhlt die Steine in die Pfeife, ihr abblätternder Nagellack sieht aus wie deine Tapete vor der Wohnungsübergabe. Rote Haare, dünne Statur, eine von nur wenigen Frauen hier. Vor ein paar Minuten hat sie sich zu mir gesetzt, wie ich mich vorher zu den anderen.
Drop Inn, Hauptbahnhof Süd. Steintor, Steindamm, Steinwall, Gefahrengebiet
Während an der Nordseite die Kaufkraft in die Stadt fällt und mit jedem ausgegebenen Euro ein Stückchen blöder zu werden scheint - bevor sie unter Tragetaschen kaum mehr auszumachen am Jungfernstieg ankommt -, scheißt der Hauptbahnhof den westlichen Kaffeesatz der Gesellschaft nach hinten aus. Ein Ort, zwei Welten: Denn der Shopaholic unterschreibt lieber in der Mönckebergstraße Petitionen zur Rettung der Wälder als sich seinen Blick auf das Preisschild vernebeln zu lassen durch sich in die Hose pissender Obdachlose, Spielhallen, Dönerläden, Gay Sexshops oder von Einstichen übersäten, dürren Junkiebeinchen. Sofern das überhaupt möglich ist - bei der zentimeterdicken Schminkschicht der vielen Dagi Bee-Fans, die ich heute sehe, wie sie ihre orangefarbenen, teilweise signierten Papiertüren schleppen, ist selbst das zu bezweifeln.
Jaqueline dürfte das alles egal sein – an ihrem Punkt einer Drogenkarriere angelangt, gibt es nur die eine Frage: Woher sie das Geld für den nächste Trip kommen soll. Und dorthin gelangt man schnell: Ein Kopf wirkt nach 10 Sekunden – und hält nur 5 – 15 Minuten. Das als am schnellsten abhängig machend geltende Rauschgift der Welt, fordert bald mehr als nur den Dispo. „Jeder von uns gibt ‘ne Millionen im Jahr aus. Jeden Tag 300, 400 Euro und nimm das mal 365“, rechnet Jacqueline vor. Sie sei eine der wenigen hier, die nicht klauen würden, fährt sie fort. Dealen und Prostitution finanziert ihren Konsum – es gibt schlicht keinen anderen Weg, so schnell an so viel Geld zu kommen.
Ihre Familie, so sagt sie, habe damals das einzig richtige gemacht – ihr den Geldhahn zugedreht. Geholfen hat es nichts. 50, 70, vielleicht annähernd 100 Leute sitzen hier, vor einem der wenigen Konsumräume Hamburgs, dem einzigen, vor dem man offen konsumieren kann. Crackwolken steigen aus unzähligen Pfeifen der in Grüppchen Sitzenden auf, von Ordnungsamt und Polizei geduldet.
„Perser, Iraker, Afghanen, viele Kurden“, zählt Jaqueline auf, „die meisten obdachlos“. Fünfzehn Plätze gibt es, zehn intravenös, fünf, an denen Drogen inhaliert werden können. Crack, Koks, H. Wer mal ‘nen Joint raucht oder ein paar Pillen schmeißt, der kommt hier nicht rein. Jacqueline kennt ihren weiteren Lebensweg, dennoch wünsche ich ihr Glück. „Pack die Chance beim Schopf, wenn sie sich wieder ergeben sollte“. Sie lächelt. Wir wissen beide, wie das gemeint ist.
Wo Gott zwischen Crack und Pisse steht
An Bahnhöfen von der Größe des Hamburger Hauptbahnhofes macht es keinen Unterschied, ob es Tag oder Nacht ist. Tagsüber wird das Elend nur offensichtlicher – wenn man hinguckt. Ansonsten existieren vor allem freudige oder verunsicherte Erwartungen des Unbekannten und beruhigtes Heimkehren an einen vertrauten Ort.
Hauptbahnhof Nord. Der Kapitalismus flankiert unseren Eingang ins Verderben mit den Superlativen seiner hässlichsten Fratzen: 18.000 Quadratmeter auf sechs Etagen zählt Deutschlands größte Saturn Filiale. Karstadt Sport: sieben Etagen. 1999 bei Fertigstellung größtes Sporthaus Europas: Der Nike Store der Hansestadt.
Vor dem Hauptbahnhof - noch vor den Ampeln - steht Jakob, Anfang bis Mitte 50, grau melierte Haare, Schnörres, formschöne, getönte Brille. In der Hand die Frage, die nur er beantworten kann: Hat Jesus wirklich die Bibel geschrieben? Jakob steht nur da, regt sich nicht, sagt nichts – bis ich ihn anspreche. Seit 1993 ist Jakob in Deutschland, geboren und aufgewachsen, „in einer ehemaligen Sowjetrepublik. Dann hatte ich einen Arbeitsunfall, habe mich taufen lassen, seitdem stehe ich hier.“, erzählt er mit ruhiger Stimme. Sein Deutsch ist nahezu akzentfrei.
1998 fing er an, „Gottes wahres Wort zu verbreiten“, wie er sagt. Was das genau sein soll – Jakob bleibt eine Antwort schuldig. Bekehren wolle er jedenfalls niemanden. Belehren irgendwie auch nicht. Verurteilen erst recht nicht. Ich bin noch nicht einmal getauft und dafür werde ich meinen Eltern immer dankbar sein - und mir so wohl Kirchensteuer als auch Austrittsgebühren sparen. Dennoch, mein bruchstückhaftes Allgemeinwissen reicht, um Jakob ungezählte Male ein „Da hast du Recht“ in verschiedensten Variationen zu entlocken.
Was er will ? Jakob bleibt schwammig. Wer dem falschen Glaube nachgehe, was daran genau falsch sei – er weiß es nicht oder will es nicht sagen. Generell oder nur mir nicht. Die Skandale der Zeugen, die ich ihm aus dem Gedächtnis aufzählen kann, lassen bei ihm Erinnerungslücken entstehen. Macht er mir was vor und wenn ja, zu welchem Zweck? Er dürfte sofort gemerkt haben, dass ich nicht empfänglich bin für seine Botschaft. Wir unterhalten uns 20 Minuten, es ist ein gutes Gespräch.
Hier, zwischen Säufern, Schwulensex und Spielsüchtigen braucht das Zeugen-Wort Verstärkung – und wird zum Glück kein Gehör finden.
Seinen Namen erfahre ich erst, als ich schon überlege, wie ich ihn abwürgen kann. „Ich muss mal weiter, ich habe noch einen Termin“ - von wegen. Als ich später selbige Stelle erneut passiere, ist Jakob nicht mehr da. Am Hauptbahnhof Süd stehen sie dafür gleich in Gruppenformation, stetig lächelnd – Jakob ist nicht darunter. Hier, zwischen Säufern, Schwulensex und Spielsüchtigen braucht das Zeugen Wort Verstärkung – und wird zum Glück kein Gehör finden. Ist aber auch egal, Bonuspunkte für den vermeintlichen Himmel gibt es trotzdem – war sich schon Jakob sicher.
„Wir nehmen alles mit“
Bereits vormittags kriecht aus den Löchern, was abends in selbigen auf dem Kiez verschwindet: Touristen, Sportvereine, Junggesellenabschiede, Kampftrinker. Auch Daniel wird morgen nicht mehr wissen, wo er heute überall war. Seine übergroßen Plastiktitten quellen aus dem Top, untenherum grüßt künstliches Schamhaar - mein gieriges Auge auf Motivjagd. Wohin es geht weiß er noch nicht. Klar ist nur „Wir nehmen alles mit“, ob alles auch zwei Beine haben kann – wer weiß das zu diesem frühen Zeitpunkt schon?!
Die Freunde aus Limburg genehmigen sich ihr erstes Dosenbier, Marke überteuerter Bahnhofskiosk-Kauf, während sie zwischen Koffern, Trinkern und vor dem Fahrkartenautomat Wartenden erste Eindrücke sammeln. Erstes Mal in Hamburg? „Drittes Mal, einmal mit Kumpels, einmal mit der Freundin.“ Daniel ist nichts weiter als die personifizierte, durch das Citymarketing genährte Hoffnung, die Nacht seines Lebens zu erleben. In dieser Stadt. In jeder Nacht.
Man sieht sie dann, Samstag- und Sonntagmorgens, hier am Hbf. Unzureichend ausgeruht, geduscht, mit dem Rollkoffer Richtung Heimat fahren. Und ein paar Stunden zuvor, ein paar Minuten S-Bahnfahrt entfernt, an Landungsbrücken und Reeperbahn, leicht bekleidet, frierend, mit kleinen, verquollenen Augen und speckig rosa Gesicht "die geilste Nacht gehabt" - oder die beschissenste. Jetzt eint sie nur noch der Kater danach und die Hoffnung, dass es nächstes Mal besser wird. Bis dann.
Hamburg, du geiles Stück Scheiße.
In Hamburg sammelt sich das Strandgut am Hauptbahnhof
All die Gestrandeten, fast ausschließlich Männer, die sich mit fortschreitender Tageszeit am Hauptbahnhof drängen. Warten auf irgendwas, auf irgendwen, das nächste Bier, den nächsten Schuss oder auch nur darauf, dass die Zeit vergeht. Sie vermischen sich mit den Arbeitenden, mit denen, die das Vergnügen suchen. Man trifft sie vor allem im Süden, vor der Polizeiwache, dem KFC. Dort, wo die Mitfahrgelegenheiten und die Taxen anhalten, wo die Sonne scheint.
Wie er, etwa 50, graues Haar, Stoppelbart, Anglerhut, Dosenbier und Buch. Seit 10 Uhr in der früh begegne ich ihm rund um den Hauptbahnhof. Immer wieder an anderen Stellen. Oder die beiden, körperlich Gezeichneten ein paar Meter weiter. Der eine, Hemdkragen, Pullover, ordentliche Hose, nichts weiter als hoffnungslose Versuche den Abwärtstrend zu stoppen. Die Nase nur eine rote, angeschwollene Knolle. Das Gesicht in rötlichem Farbton, hält sich dieser tapfer Kämpfende immer wieder an einem Pfahl fest, während er mit der anderen Hand die Bierdose zum Mund führt. Ist sie abgestellt, lässt er den Kopf hängen – immer noch aufgestützt, nachdenklich wirkend. Mittags sehe ich, wie die Pisse seine Hosenbeine hinab geronnen ist. Auf der Nordseite geht man derweil shoppen.
Es sind die, denen die Polizei Platzverweise erteilt, weil man hier nicht sitzen darf, wenn man nicht aussieht wie du und ich. Die, die diejenigen stören, die zwar ganz sicher auch mal für den guten Zweck spenden, aber ihren Umsatz gefährdet sehen. Es sind die, die in Starbucksbechern ihre Münzen sammeln, statt selbige dafür auszugeben. Es sind auch die, die noch Hoffnung haben oder Wut im Buch, wie die Gruppe Lampedusa Hamburg, unweit einer der vielen Zugänge zu U1 / U3. „Don‘t shoot us. Black Lives Matter Too“, steht auf ihrem Transparent am Zelt. Seit vier Jahren sind sie hier – 24/7 für die Hoffnung. Es sind auch die, die am ZOB ankamen, mit einem der Fernbusse aus Osteuropa, in der Hoffnung auf ein besseres Leben - und seit ihrer Ankunft die Gegend um den Hauptbahnhof nie verlassen haben.
Sechs Stunden am Hauptbahnhof sind vorbei. Ein Kraftakt. Wir sollten demütiger sein, an Orten wie diesen.