Glaube, Liebe, Hamburg: Warum du viel mehr kannst als du denkst
Segel Setzen #13
“Du kannst viel mehr als du denkst. Du kannst viel mehr als du denkst. Du kannst -” Ich werde in meinen Gedanken vom Kioskverkäufer unterbrochen, der mir mit der Süßigkeitentüte in der Hand über die Brücke der S-Bahnstation Poppenbüttel hinterherläuft. Ich war bei meinen Eltern und bin gerade auf dem Weg in die Stadt. Mein Kopf dröhnt. Immer wieder kommen diese blöden Selbstzweifel auf - vor allem, wenn ich noch keinen richtigen Plan für die Zukunft habe (Die nächsten drei Monate zählen nicht). Das führt dazu, dass ich abwechselnd grübelnd durch die Gegend laufe oder mir mantraartig vorsage, dass alles gut wird. Beides kann so nicht weitergehen.
Erwachsene können alles.
Ich komme in Ohlsdorf an und wechsle das Gleis zur U1.
Ich bin eine Erwachsene. Das muss ich mit 27 Jahren einfach so sagen. Früher dachten wir immer, Erwachsene würden alles können, hätten niemals Selbstzweifel. Heute lachen wir über diese Vorstellung. Die wenigsten Selbstzweifel hatte ich tatsächlich als Kind. Einmal noch dieses kindliche Selbstvertrauen besitzen, einmal noch kopfüber in etwas hineinstürzen! Manchmal funktioniert das auch, aber wie oft lassen wir Gedanken nicht einmal zu, in der Angst, scheitern zu können?
Zu viel Selbstreflektion kann hemmen
“Nächster Halt: Kellinghusenstraße” Mit der U3 geht’s weiter über Schlump zur Sternschanze. Ich muss da schnell was am Schulterblatt besorgen. Ich laufe über den Neuen Pferdemarkt, wo die Kreuzung immer derbe anstrengend ist.
Zwei Studiengänge, einige Auslandsaufenthalte, verschiedenste Stationen des Arbeitslebens: In der Vergangenheit habe ich vieles ziemlich gut gemeistert. Das kann ich soweit von mir behaupten. Warum nehme ich also zunächst an, ich könne etwas nicht? Denn das Gegenteil kann ich auch nicht beweisen. Natürlich kann das Gehirn nicht 24/7 alles abrufen, was man in den letzten Jahren geleistet hat. Aber warum schaffen wir es trotzdem nicht, ein insgesamt gutes Bild von unseren Fähigkeiten zu haben? Vielleicht liegt das Problem in unserer Selbstreflektion begraben. Sind wir sehr reflektiert, sehen wir eben auch alles, was wir nicht können. Sind wir unreflektiert, machen wir einfach. Das birgt zwar das Risiko, zu scheitern -aber es ist sehr viel besser, als wie paralysiert dazustehen und nichts zu tun. Vor allem wächst man dadurch.
Steige Feldstraße ein, nicht ohne mich über die Palme auf dem Bunker gefreut zu haben. Die U3 bringt mich raus aus dem Tunnel, immer wieder dieses gleiche Gefühl, wenn die Landungsbrücken in Sichtweite kommen. Gänsehaut, immer und immer wieder.
Ja, man wächst mit seinen Aufgaben. Das klingt so unglaublich abgedroschen, aber es ist gleichzeitig einfach die Wahrheit. Niemand kann alles von Anfang an perfekt. Und niemand hat einen genauen Plan für die nächsten 10 Jahre, inklusive allen Schritten, die ihm die Fähigkeiten dazu geben können. Auch ich bin mit meinen Aufgaben gewachsen und das macht Mut: Denn ich werde es auch in Zukunft. Was ich alles in fünf Jahren erreicht haben werde, kann ich mir jetzt noch gar nicht ausmalen.
Ich darf in Hamburg sein.
Es klingt fast zu kitschig, um wahr zu sein und vielleicht habe ich es mir ausgedacht, aber zwischen Baumwall und Rödingsmarkt blitzt die Sonne plötzlich durch die Wolken. Ich hole mir bei der Kaffeerösterei meines Vertrauens einen Flat White und schlendere wieder zurück Richtung Hafen.
Innerlich gehe ich die Stationen der letzten zehn Jahre meines Lebens durch. Auf keine Erfahrung möchte ich verzichten, nicht einmal auf den Liebeskummer. Und ich überlege, welche Erfahrungen mich wie geprägt haben. Welche Erfahrung hat bewirkt, dass ich jetzt hier sein darf, in der schönsten Stadt der Welt? Ich habe einen ganz schön langen Weg hinter mich gebracht, denke ich mir, während ich mit der Rolltreppe zur Aussichtsplattform der Elbphilharmonie hochfahre.
Ich stehe oben und lasse mir die Haare aus dem Gesicht wehen. Ich genieße die Sonnenstrahlen auf der Nasenspitze. Ein obligatorischer Rundgang um die Plattform, nur um doch wieder bei meiner Lieblingsaussicht zu landen. Der Blick über den Hafen. Einatmen, Ausatmen. Der Stolz, wieder in der Stadt zu leben, die mich so geprägt hat. Ich denke an das zurück, was ich hier erlebt habe. Das, was mir widerfahren ist und das, was ich aus eigener Kraft erreicht habe. Und das ist verdammt nochmal ganz schön viel. Ich muss daraus nur die Inspiration ziehen, auch in Zukunft darauf zu vertrauen. Denn wir alle können viel mehr, als wir denken.
Lina ist geboren und aufgewachsen in Hamburg und hat auf keiner ihrer Reisen jemals eine Stadt gesehen, die sie so gefangen nimmt. In ihrer Kolumne "Segel setzen" schreibt sie regelmäßig über die großen und kleinen Themen des Alltags einer Mittezwanzigjährigen – und natürlich über die Liebe zur Herzensstadt.