Jenseits der Donnerkuppel – eine Begegnung mit der wundersamen Welt von Wacken
Ich war in meinem Leben bisher schon auf einigen Dutzend großen und kleinen Festivals, nur zur Jahreshauptversammlung der Metal-Gemeinde im schleswig-holsteinischen Wacken ("W:O:A" -> Wacken Open Air) hatte ich es bislang noch nie geschafft – was daran liegen mag, dass ich mit diesem musikalischen Genre im Grunde nicht viel anfangen kann. Als jedoch vor ein paar Wochen eine freundliche Einladung von Jägermeister im Mit Vergnügen-Postfach lag, hab ich nicht lange gezögert – zu viele Geschichten über dieses sehr spezielle Festival waren schon an mein Ohr gedrungen.
Zu den wenigen Erinnerungen aus meinem abgebrochenen Sozialwissenschaftsstudium zählen die Begriffe „teilnehmenden Beobachtung“ und „beobachtende Teilnahme“ – ich entschied mich auf dieser Mission für die erste Methode, und entsprechend bei der Wahl des Outfits für ein regenbogenfarbenes Shirt. Den Metal-Fan würde mir auch in Lederhose und Jeansweste wohl niemand abnehmen, also lieber direkt in die Offensive gehen.
Extrem wichtig bei jedem Festival: das passende Outfit.
Erster Eindruck beim Eintreffen auf dem Weg zum riesigen Festivalgelände: richtige Entscheidung, denn „offensiv“ ist hier das passende Stichwort, zumindest in puncto Alkoholkonsum. Dazugehörige Schnapsleichen sind am Nachmittag allerdings nicht auszumachen, die Besucher scheinen neben ausnahmslos schwarzen Textilien auch eine solide Trinkfestigkeit mitgebracht zu haben.
4 Bier für die Männer vom Sägewerk.
Zeltplätze und Festivalgelände liegen bei knapp 30 Grad unter einer diffusen Staubwolke. Kein Wunder, dass hier viel getrunken wird – allerdings bitte „nicht nur Bier, sondern auch Wasser“, wie mir von einer der zahlreichen Videoleinwände entgegenblinkt. Und bitte auch die Sonnencreme nicht vergessen. Sehr schön, hier passt man also aufeinander auf. Kostenlose Wasserausgabe auf dem Gelände und Sonnenschutz-Dächer für die Ordner unterstreichen diese Attitüde. Hab ich so auch noch nicht gesehen.
Wie Mad Max und seine Kumpels Maschinengewehr und Säge an der Security vorbei bekommen haben, bleibt ihr Geheimnis.
Weiter geht’s ins Zentrum des Orkans, einer Donnerkuppel namens „Infield“. Zu all dem Schmutz und Staub kommt jetzt noch Krach, denn mitten auf der ausgedörrten Wiese ist ein überdimensionales Raumschiff gelandet, das anscheinend gerade startet, zumindest dem Geräuschpegel nach zu urteilen. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich das UFO als die größte Festival-Bühne, die ich je gesehen habe, und der infernalische Krach scheint aus den reihenhausgroßen Boxentürmen zu kommen und von diesen schwarzgekleideten Gestalten dazwischen verursacht zu werden.
Schnell flüchte ich dorthin, wohin ich immer flüchte, wenn Gefahr droht – in den nächstbesten Gasthof. In diesem Falle den Jägermeister Gasthof, den fleißige Menschen in bester Sichtlage zur Hauptbühne errichtet haben – wie nett!
Im ersten Stock tummeln sich auf dem Balkon und im Inneren Metaller aus aller Welt, ein Haufen Fotografen, viel Bar-Personal, das alle Hände voll zu tun hat (der Staub!) sowie ein DJ, der mit Stimmungshits einer kleine, tanzwütige Meute einheizt. Das hier könnte auch eine Mit Vergnügen-Party sein. Von hier hat man außerdem den perfekten Blick auf die Bühne, auf der hoffentlich gleich Lemmy von seinen Motörhead-Kumpels aufgestellt und festgehämmert wird, danach werden Slayer den zehntausenden Fans vor der Bühne zumindest die Gehörgänge vom Staub befreien.
Ralle, der Winkinger, geht Bier holen - denn wir ham noch lange nicht genug.
Bis dahin beobachte ich einfach weiter die Besucher, verteile Mit Vergnügen-Sticker an begeisterte Metalheads und freundliche Security-Leute und trinke mit ihnen Jägermeister in diversen Misch-Variationen. Die Hälfte der Besucher trägt W:O:A-Shirts, der Rest mehr oder weniger leserliche Bandlogo-Shirts, irgendwie sonst beschriftete Oberbekleidung, Jeanswesten oder gleich freien Oberkörper. Aber auch die auf jedem Festival anzutreffenden Gestalten mit Bademänteln, Tiger-Pantoffeln, Second-Skin-Ganzkörperanzügen, Bärchenmützen etc. wanken vorbei. Mein Shirt kommt gut an, die Reaktionen reichen von Schulterklopfen („Geil, Alter!“) über Brüderschafts-Trinkrunden („Waaaacken!“) bis zu einer netten Nachfrage nach meiner sexuellen Orientierung („Bischt aber schon schwul, oder?“).
Im Laufe der nächsten Stunden erläutern mir diverse Leute in verschiedenen Sprachen, Dialekten und Alkoholisierungsgraden die Faszination Wacken, das meiste verstehe ich aufgrund dieser Mixtur nicht wirklich – zusätzlich zerlegen hinter mir Slayer nicht gerade geräuschlos die True Metal Stage. Ein freundlicher Südamerikaner erklärt, dass ich mich hier im Zentrum der Metal-Welt befinde und man Satan hier riechen könnte. Interessanterweise riecht Satan anscheinend nach Bier, Urin und Knoblauchbrot.
Zum Glück haben sich die beiden alle wichtigen Telefonnummern auf dem Arm notiert. Verdammt, Akku leer!
Dockville? Melt? Nein, auch die Wacken-Besucher haben eine verträumte Seite.
Die gefühlt maximal dreiminütige Ruhe nach dem Ende der Slayer-Performance nutze ich, um mich von der Geborgenheit des Jägermeister Gasthauses, seinen gut gelaunten Gästen und dem nervenstarken und ebenso gut gelaunten Bar-Personal zu verabschieden. Zusammen mit Scharen staubig-schwarzer Menschen mache ich mich auf den Weg zu den Zelt- bzw. Parkplätzen. Nanu, gehen die jetzt alle schon schlafen oder gibt es noch irgendwo einen Sleepless Floor? Alkohol und Sonne haben den meisten Leuten anscheinend schwer zugesetzt – und die einseitige Farbwahl rächt sich hier sicher auch mehr als in den norwegischen Wäldern.
Dank perfekter Organisation durch die Festivalmacher und der absoluten Friedfertigkeit der Besucher läuft das ganze reibungsloser als sonntagmorgens bei meinem Bäcker. Ich werde von einer dunklen Welle zum Ausgang getragen, vorbei an ca. 7.251 Dingen mit Wacken-Logo – Autos, Wohnmobile, Bierdosen, T-Shirts, Trinkbecher, Rentierfellen, Trinkhörner, Banner, Luftballons, Schilder, sogar an einem Wacken-Outlet-Store komme ich vorbei. Die Marke scheint ganzjährig ein beliebtes Abgrenzungs-Tool zu sein. Trotzdem steckt in dem Festival spürbar eine Menge Liebe zur Musik und zu den Details eines Festivals, das spüre ich auch als teilnehmender Beobachter – und es ist genau das, was mir als beobachtender Teilnehmer auf anderen Festivals manchmal ein bisschen fehlt.
Auf dem Zeltplatz hören noch zwei junge Metal-Freunde über die Autoboxen irgendwas mit Gitarrensoli und Double-Bass-Gewitter, aber bevor ich kleinen und Zeigefinger zum Gruß spreizen kann, werden die beiden von einer herbeieilenden Dame beim Headbangen unterbrochen: „Sorry, ich weiß, das ist nicht besonders Metal, aber wir wollen jetzt gern schlafen – könnt ihr das ausmachen?“. Die Jungs ziehen mit dem Dosenbier in der Hand Leine und ich mache mich beruhigt auf den Heimweg. Zum Glück doch irgendwie alles ganz normal hier in diesem Wacken.