Glaube, Liebe, Hamburg: Pfadfinder zu sein ist Hamburgs geilstes Hobby
Es ist Mittwochabend, 17:00Uhr, und ich sitze mit sechs kleinen Mädchen in einem Kreis und esse Süßigkeiten. Sie erzählen mir von ihren Erlebnissen in der Schule, dass es jetzt alles so anstrengend ist in der 5. Klasse und dass sie jetzt endlich herausgefunden hätten, dass Jungs eben einfach blöd sind.
So verbringe ich jeden Mittwochabend mit diesen sechs Mädchen, bastle, singe, spiele und lache, denn ich leite eine Pfadfindergruppe in Hamburg Ohlsdorf.
Jugendgruppenleiterin im PBN (Pfadfinder- und Pfadfinderinnen Bund Nord) zu sein, bedeutet aber nicht nur, sich einmal in der Woche mit Elfjährigen in einen Kreis zu setzen und ihren Geschichten zu lauschen. Ich fahre außerdem einmal im Monat mit meinen Mädels und unserem Zelt für ein Wochenende ins Hamburger Umland und im Sommer für drei Wochen ins europäische Ausland. Soweit so gut.
Sicher gibt es eine endlose Zahl von Jugendorganisationen, die ähnlich funktionieren. Doch Pfadfinder hängt, seit ich denken kann, dieses unsägliche „Ach, du würdest am liebsten in Baumwipfeln leben!“-Mantra an.
Pfadfinder zu sein heißt theoretisch: Mit nur einem Rucksack und seinen Freunden in den Wald zu fahren, dort zu zelten und ohne elektronische Geräte oder Hilfe von außen klar zu kommen.Praktisch heißt es: Die beste Zeit seines Lebens haben, neue Länder sehen, zusammen mit seinen besten Freunden durch dick und dünn gehen – die zweite Familie eben.
Zwischen zwei Welten
Ich bin seit 8 Jahren bei den Pfadfindern. Früher war ich selbst Gruppenkind und in all den Jahren habe noch nie eine Baumwurzel verspeist. Diese Zeit hat mir eher beigebracht, was es heißt, wahre Freundschaften zu schließen. Die anderen Mädchen in meiner alten Gruppe waren wirklich (ich weiß, dass so etwas immer kitschig klingt) wie meine zweite Familie und noch nie habe ich so geweint, als meine Gruppenzeit dann im Sommer 2012 vorbei war. Vielleicht kam der eine Liebeskummer, damals in der 6. Klasse, schon ziemlich nah an dieses Gefühl ran, aber vergleichen kann man das trotzdem nicht wirklich. Ganz davon abgesehen, dass wir bis heute Freunde sind, und ich den Kerl aus der 6. Klasse längst vergessen habe.
Durch diese zweite Familie ergibt sich jedoch automatisch auch eine zweite Welt, denn da sind dann auch noch die Freunde, die nicht bei den Pfadfindern sind und kein Verständnis dafür haben, wieso man denn nicht einfach mal diese eine Fahrt am Wochenende absagen kann - es ist doch schließlich diese riesige Party am Samstag. Das schafft Probleme und nicht selten Ärger.
Als Gruppenleiterin trage ich die Verantwortung, und ohne mich können die Kinder nicht auf Fahrt gehen. Ich kann also keine Fahrt einfach so absagen, um mich mit meinen Freunden auf einer Party zu besaufen. Dabei wäre es eine Lüge, zu behaupten ich hätte. Ach ja, ich bin ein Pfadfinder und finde Partys sowieso scheiße, ganz vergessen.
Welche Mutter würde ihr Kind in einen Verein schicken wo sich nicht gewaschen wird und die Ernährung aus Wurzeln besteht?
Vorurteile? Immer her damit!
Genau solche Sätze möchte ich widerlegen, denn sie sind einfach nur frei erfundener Schwachsinn. Dass Pfadfinder Baumrinde essen müssen und Tag und Nacht in ihrer Uniform rumlaufen, ist ebenso eines der abgefahrensten Gerüchte. Wieso sollte das irgendjemand machen?! Welche Mutter würde ihr Kind in einen Verein schicken, wo sich nicht gewaschen wird und die Ernährung aus Wurzeln besteht? Mir zumindest würde so etwas keinen Spaß machen und den meisten anderen, halbwegs bei Verstand gebliebenen, wahrscheinlich auch nicht.
Ja tatsächlich, Pfadfinder schmeißen auch manchmal Müll auf den Boden
Wir machen unser Feuer nicht nur mit einem einzigen Stock, den wir zwischen unseren Händen hin und her bewegen, wir benutzen tatsächlich Streichhölzer. Auch wissen wir nicht immer, wo Norden ist und laufen auch selten mit unserem Kompass durch den Wald. Wir benutzen Wanderkarten wie jeder normale Wanderer.
Und ja tatsächlich, Pfadfinder schmeißen auch manchmal Müll auf den Boden. Klar versuchen wir den Wald so zu hinterlassen, wie wir ihn vorgefunden haben, aber da wir wie alle anderen auch nur Menschen sind, wird keiner an den Marterpfahl gestellt, wenn es doch mal passiert.
Es gibt natürlich auch andere Verbände, die solche Klischees wunderbar belegen. Die müssen tatsächlich noch Pflanzen, Knoten und Tierspuren auswendig lernen, um sich ein Abzeichen für ihre sogenannte „Kluft“ zu verdienen. Meistens sind diese Verbände aber auch Teil von irgendeiner Kirche. Wegen dieser Gruppen, kann man es also niemandem wirklich übel nehmen, uns als streng gläubige Ökofreaks zu sehen. In Hamburg sieht das aber eben ganz anders aus.
Pfadfinder sind viel eher ein Haufen kreativer verkorkster Hippies, die eben Bock auf was anderes haben und mal raus zu kommen aus dem Alltag als, dass man uns als disziplinierte, gläubige Naturfanatiker bezeichnen kann.
Durchhaltevermögen und Verantwortung
In diesen vielen Jahren habe ich mich unglaublich verändert – kein Wunder, jeder verändert sich im Teens-Alter. Doch bei den Pfadfindern zu sein, hat mich zu einem selbständigeren Menschen gemacht. Das unterscheidet mich von vielen meiner Altersgenossen.
Für mich ist das schon lange nicht mehr nur ein Hobby. Niemals würde ich mit jemandem tauschen wollen, um heute beispielsweise professionell Hockey oder sonst was spielen zu können. Seit ich meine eigene Gruppe leite, hat Pfadfinder sein für mich eine ganz andere Bedeutung bekommen. Ich verbringe sehr viel Zeit damit, Dinge zu organisieren und mir ständig neue Sachen für die Kinder zu überlegen. Vor allem die Arbeit mit den Eltern ist teilweise ziemlich schwierig, da ich mit meinen 17 Jahren für die natürlich alles andere als eine Autoritätsperson bin.
Manchmal frage ich mich selbst, warum ich das alles überhaupt mache, aber ich habe meine Mädchen trotz all ihrem Gemecker so ins Herz geschlossen, dass es kein schöneres Gefühl gibt, als dabei zuzusehen, wie sie langsam groß werden und von selbst Dinge tun, die ich ihnen beigebracht habe.
Diese Art zu Leben, kann man als Stadtkind nicht auf ausgeflippten Hauspartys lernen
Auf freiem Fuß durch die Welt, ein kleiner Ausbruch aus dem alltäglichen Leben
Meine Erfahrungen als Pfadfinder haben mir vor allem eines beigebracht: Unkompliziertheit. Ich fahre bespielsweise nach all den Jahren viel lieber mit meinen Freunden von den Pfadfindern auf Festivals. Nicht weil ich keine Lust auf meine anderen Freunde habe, sondern weil es diesen Menschen egal ist, wie oft man denn jetzt geduscht hat und ob die Gabel eben noch auf dem Boden gelegen hat oder ich sie aus meiner vakuum-verschlossenen Zipper Tüte gezaubert habe.
Während ich mit meinen zwei Freundinnen neben den Waschbecken gestanden und mir eine Schüssel nach der anderen über den Kopf gekippt habe, um mir die Haare zu waschen und dabei die lange Schlange vor den Duschen zu umgehen, kassierten wir Blicke voller Verachtung von den Mädchen mit ihren Badeschlappen, weißen Handtüchern und den iPhones in den wasserfesten Hüllen. Weil die Schlange so lange war, verpassten sie die nächsten drei Konzerte, um sich eben die Haare unter der Dusche zu waschen.
Ich habe die drei Konzerte gesehen, mit frisch gewaschenen Haaren. Und diese Art zu Leben, kann man als Stadtkind nicht auf ausgeflippten Hauspartys lernen.
Diesen Beitrag hat unsere neue Praktikantin Alisa geschrieben.