Glaube, Liebe, Hamburg: Du kannst feige sein oder du kannst lieben

Ich sitze auf meinem Fahrrad, fahre das Kanalufer entlang, während die Spätnachmittagssonne warm durch die Bäume und deren herunterrieselnde Blätter scheint und finde meine Entscheidung, heute doch nochmal aufzustehen und rauszugehen, schlagartig ziemlich gut.

"Warum mache ich sowas nicht öfter?", denke ich wie so oft in allen möglichen schönen Lebenssituationen, die man viel zu selten macht und die sich wahrscheinlich genau deshalb so besonders anfühlen.
Der Herbst hat begonnen und ich spüre in mir dieses Melancholie-Gefühl, das immer dann aufkommt, wenn die Jahreszeiten wechseln. Dieses Andere-Jahreszeit-Gefühl, dieses Der-Sommer-ist-vobei-, dieses Alles-ist-plötzlich-anders-Gefühl.
Am Ufer, auf Parkbänken oder Wiesen sitzen paarweise Menschen, die sich verstohlen angrinsen, angeregt unterhalten, Küsse austauschen oder aneinander angelehnt mit geschlossenen Augen das Gesicht zur Sonne wenden und ich frage mich, ob diese Menschen so frei und glücklich sind, wie sie wirken, denn oft sind die Dinge ja anders, als sie scheinen.

Offenbar gab es Situationen in meinem Leben, in denen ich mich nicht gut genug gefühlt habe

Oft zum Beispiel spielen die Menschen eine Rolle, um zu gefallen, ohne zu merken, dass (wenn überhaupt) nur ihr wahres Gesicht gefallen kann und wenn nicht, sie es sowieso mit dem falschen Menschen zu tun haben. Ich muss gestehen, dass auch ich das schon getan habe und ich empfinde bei dem Gedanken eine Mischung aus Scham und Mitleid mit mir selbst. Offenbar gab es Situationen in meinem Leben, in denen ich mich nicht gut genug gefühlt habe oder es gab Menschen, die mir das Gefühl gaben und denen ich mehr glaubte, als ich mir selbst vertraute.

Während ich durch dieses Meer aus unterschiedlichen Energien fahre, die von den Menschen und ihren Beziehungen zueinander ausgehen und an mir vorbeiströmen, frage ich mich eigentlich bei jedem Paar, das ich sehe, ob es DIE oder wenigstens eine große Liebe ist oder ob sie gerade ihr erstes und letztes Tinder-Date haben oder vielleicht auch ihr zweites oder nichtsahnend vorletztes. Einem Pärchen, das schweigend im Schatten distanziert nebeneinander auf einer Bank sitzt, sieht man an der Nasenspitze an, dass „es gerade kompliziert ist“. Vielleicht hätten sie sich öfter in die Sonne und weniger in den Schatten setzen sollen, möglicherweise wäre dann alles einfacher. Ja, vielleicht ist es wirklich manchmal so einfach.

parkherbstwiesesonne

Auch ich bin schon weggelaufen – meistens, indem ich stur in das Falsche hineingelaufen bin

Die Luft ist kühl und der Herbst erinnert mich sehr an die Sehnsucht danach, verliebt zu sein und ich frage mich einmal mehr, warum so viele Menschen dieses große Gefühl vergessen zu haben scheinen. Warum sie sich selbst in der Sehnsucht und dem Bedürfnis danach, es zu erleben, beschneiden. Warum jeder sich selbst wichtiger ist, sich gerade nicht festlegen kann oder einfach momentan zu viel um die Ohren hat. Warum viele in einer Bindung eher eine Verpflichtung als eine Bereicherung sehen und warum sich Menschen so oft selbst belügen und damit auch andere. Warum jeder denkt, er könne doch noch etwas Besseres finden als das, was er gerade gefunden hat. Und warum alle immer nur weglaufen.

In diesem Moment muss ich wieder mal an dieses eine Zitat von Hans Kruppa denken, das so großartig ist und wahr ist, dass ich es gerne jedem Liebesabhauer klugscheißerisch und vorwurfsvoll an den Kopf werfen möchte, so als wüsste ich es besser.
„Die Menschen reden immer von ihrer Freiheit und meinen nur ihre Angst vor einer Liebe, die größer werden könnte als ihr Egoismus."
Bäm. Nimm dies, Feigling!
Aber leider wusste auch ich es schon so oft nicht besser. Leider bin auch ich schon ein Feigling gewesen. Auch ich bin schon weggelaufen – meistens, indem ich stur in das Falsche hineingelaufen bin. Auch ich fühle mich im Nachhinein beim Lesen dieser Zeilen ertappt. 
Ich suche mir ein freies Plätzchen am Wasser und strecke meine Nase in die langsam verschwindende Sonne und fühle mich plötzlich sehr losgelöst und frei. So, wie man sich immer fühlt nach einer neuen Erkenntnis über sich selbst, nachdem sie gesackt ist. So als wäre man plötzlich ein Stück älter und weiser geworden und seinem inneren Frieden ein Stück näher gekommen. Und dieses Gefühl ist so schön, dass ich mir in diesem Moment nichts mehr wünsche als genau das irgendwann mal zu werden: alt, innerlich friedvoll und weise.
Beitragsbild: Sonja Guina | Titelbild: Jenelle Ball
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