Clubs von gestern: Posemuckel (1980-1992)
Die Achtziger, ein diffuses Jahrzehnt. Viel ambivalenter jedenfalls, als es das 36. Revival seit 1990 gemeinhin suggeriert. Die Achtziger, das war ja eine Ära der aseptisch distanzierten Wave-Disco ebenso wie des septisch biederen Emailleschilderwald-Ambientes. Neonlichtdurchzuckte Einzeltanzfabriken koexistierten vergleichsweise harmonisch neben heillos überfrachteten Schankstuben in Gelsenkirchener Barock. Es gab die ersten Technokeller, die letzten Rockschuppen, die lässigen Discos am Übergang. Es gab Läden für Goths oder Popper, Hippies und Punker, Soul-Kids oder Rocker. Und es gab das Posemuckel.
Falls es das wirklich gab.
Wer je im Posemuckel war, der leugnete es
Mit dem Posemuckel verhielt es sich nämlich wie mit dem westfälischen Festland-Atlantis Bielefeld: Über die Existenz des Kneipendorfes am Binnenalsterfleet konnte letztlich nur gemutmaßt werden. Kaum jemand wollte schließlich je dort gewesen sein. Im Posemuckel waren allenfalls Freunde von Freunden entfernter Bekannter, die dann auch noch schamlos leugneten, je dort gewesen zu sein. Was den Zweifel daran nährte, dass sich unter Hamburgs teuerster Konsumzone etwas anderes als gut gefüllte Warenlager umliegender Edelboutiquen befänden, die ab 1980 wie Schulterpolster aus den Einkaufspassagen jener Jahre wuchsen.
Posemuckel, das war zur These menschenleerer Innenstädte nach Einbruch der Dunkelheit die Antithese eines vitalen Nachtlebens, deren Synthese ausgerechnet nach einem polnischen Dorf benannt wurde, das hierzulande rasch zum Synonym für Pampa wie Kleinkleckersdorf oder JottWeDe geriet: Podmokle Małe, zu deutsch: Klein Posemuckel.
Verwinkelt wie das Tunnelsystem der Vietkong.
Doch um jedweder Verschwörungstheorie das Brackwasser abzugraben: So wie es das 458-Seelen-Nest nahe der alten DDR-Grenze gibt, gab es auch den hanseatischen Kneipenkomplex in Rathausnähe. Mehr noch: es war gigantisch, weiträumig, verwinkelt wie das Tunnelsystem der Vietkong, fast ebenso dunkel, nur weitaus bevölkerter. Die unterirdische Gaststättenlandschaft nämlich, deren Vorkommen so gern dementiert wurde, war besonders am Wochenende derart brechend voll, dass die Menschentraube davor selbst im Winter, der seinen Namen damals noch wirklich verdient hatte, bis weit über die angrenzende Bleichenbrücke hing.
Einmal mit eigenen Augen sehen, was alle scheinbar verachten
Und ich weiß, wovon ich rede, auch ich stand einmal darin und begehrte Einlass in Hamburgs meistgehasster, meistgeliebter Partylocation eines Jahrzehnts, das zusehends unangenehm wurde: selbstgefällig, schlageresk, überfönt, die Rick-Astley-Achtziger halt. Doch wie jeder Bundfaltenhosenträger wurde auch ich irgendwann, es muss etwa 1987 gewesen sein, vom Lord Voldemort der erwachenden Eventkultur angesaugt wie durch blutige Kriegsbilder oder fiese Autounfälle. Einmal mit eigenen Augen sehen, was alle Welt so hassliebt. Gut, detailliertere Erinnerungen hat mein halbwissenschaftlicher Eigenversuch nicht ins Langzeitgedächtnis kodiert. Aber ein bisschen ist dennoch hängengeblieben.
Die Unübersichtlichkeit vor allem, das unfassliche Durcheinander, ein Chaos aus 13 vorwiegend bürgerlichen Bierschenken mit Discocharakter, verteilt aufs tiefgaragengroße Untergeschoss vom „Kaufmannshaus“ genannten Altbau drüber, den zahllose Säulen auf Abstand hielten, um die sich Unmengen eher stinknormaler Leute scharten, als sei oben gerade jener 3. Weltkrieg ausgebrochen, der den bierseligen Hedonismus des anwesenden Mainstreams im Zeitalter der Ostermärsche und Hausbesetzungen noch zu rechtfertigen hatte. Deren Stammpersonal war hier allerdings so rar wie Stil und Geschmack.
Der analoge Aufreißschuppen schlechthin.
Innenarchitektonisch gestaltete sich das Posemuckel rings um den zentralen Bierbrunnen ja irgendwo zwischen Hafen-Pinte, Pupasch und Peepshow. Musikalisch wurde es mit den zeitgenössischen Mittelschichtscheußlichkeiten von Italo-Disco über Chart-Sülze bis Schweine-Rock und den wiedererblühenden Schlager beschallt, zu denen auf mehreren Dancefloors weniger getanzt als bemüht rhythmisch gedrängelt, besser: gebaggert wurde. Denn unterm Einfluss des Hitti Hitti genannten Longdrinks unbekannter Zusammensetzung (Jägermeister war wohl drin) galt das Posemuckel eingangs der Technoepoche als analoger Aufreißschuppen schlechthin, der nicht nur über eine eigene Währung namens Posemuckel-Taler verfügte, sondern über Straßennamen, Regierungsmitglieder, eine Zeitung. So weit der vernebelte Volksglaube.
Die Realität entzauberte ihn jedoch an einem einzigen Samstagabend als das, was seien Ruf bis zur kollektiven Verleugnung seiner bloßen Existenz ruiniert hatte: Ins Posemuckel ging, wer fürs Madhouse zu gesittet daherkam, fürs Trinity zu schnauzbärtig, fürs Mojo zu banal, fürs Top Ten zu alt, fürs Café Keese zu jung und für die frische Konkurrenz von Tempelhof bis Subito zu konservativ. In den Ecken fern des zentralen Ballermann-Pultes spielten die DJs zwischen den notorischen Mikro-Texten zwar schon mal Soul, als er noch nicht ausnahmslos auf Vinylsingles ohne Coverbedruck verabreicht wurde, doch das waren elaborierte Ausnahmen vom Abschleppservice Posemuckel, der die Partystadt um nicht mehr als einen fahlen Mythos bereicherte, die Innenstadt sei auch nach Ladenschluss noch lebenswert.
Die Innenstadt nach Ladenschluss – heute wie früher todgeweiht
Das ist sie nicht, sie ist täglich ab zehn Uhr abends zum Sterben verurteilt, wie nicht nur die architektonisch verunstaltete Bleichenbrücke belegt, wo die Stadt vor 35 Jahren begann, echtes Leben durch überdachte Passagen zu ersetzen. Mit einem tageslichtlosen Omakneipenkonglomerat als Feigenblatt vermeintlicher Vitalität. Falls es denn existierte.