Clubs von gestern: Egalbar (1994-2012)
Heimat ist ein heikler Begriff. Als Codewort für ortsgebundenes Zugehörigkeitsgefühl rechtfertigt er Hass, Gewalt und Kriege ebenso wie Demut, Idealismus und Liebe. Heimat steckt in Staaten, Regionen, Städten, in Zonen und Dörfern, Plätzen und Häusern, ja selbst in Sofas und natürlich, manche würden sagen, besonders da: der Stammkneipe. Wer keine hat, ist gemeinhin in einem dieser vier Aggregatszustände: zu faul zum Ausgehen, zu reich für den Pöbel, zu fern der Zivilisation oder Opfer einer gemeinen Straftat, genauer: Diebstahl. Für mich gilt definitiv letzteres.
Der Ort, an dem das Bier noch per Kutsche kam
Vor bald sechs Jahren nämlich wurde mir die Egalbar geklaut und mit ihr ein Teil meines Herzens geschlossen. Mehr als 120 Jahre lang hatte sich dort, wo die Marktstraße zum Heiligengeistfeld abknickt, eine Gastwirtschaft befunden. Als Bismarck noch Kanzler war, hieß sie Forin, als Bier noch per Kutsche kam, W. & G. Thiese, als das Karoviertel ringsum verwahrloste, Pappnase. Und als ein Nachbar namens Jurij Theiss 1994 hinzukam, eröffnete er darin meine Stammkneipe in spe mit dem gleichgültigen Präfix, das Understatement und Übertreibung in einem war.
Scheiß auf Regeln, Scheiß auf Konventionen, Scheiß auf Profit
Denn die Egalbar entwickelte sich rasch zur faszinierendsten Kaschemme im Kiezeinzugsgebiet. Und zwar nicht allein wegen der exzellenten Lage am Schlachthof, einer kundenfreundlichen Preisstruktur ab 1,80€ fürs Astra oder dem kybernetischen Kicker zwischen Klodesaster und Kühlschrank, der nach jedem Spiel kurz ins Lot getreten wurde. Mehr noch lag es an der Atmosphäre, dieser räudigen Aura des Scheiß auf Regeln, Scheiß auf Konventionen, Scheiß auf Profit, Egalbar eben.
Bis auf ein paar Tausend Tags wurden die nikotinbeigen Wände von ganzen zwei echten Deko-Elementen verziert: einer Art ergotherapeutisch gebasteltem Mehrfarbendrehlicht, das von Beginn an zwischen Rot und Gelb hakte. Dazu die grobe Zeichnung eines DJs in jener Ecke, wo das Herz der Bar schlug: zwei offen zugängliche MK2. Und das war nicht nur wegen des Tastentelefons als Kopfhörer außerordentlich.
Während die Musik ähnlicher Etablissements seinerzeit vom Band kam und falls nicht, von Expertenhand, stellte Jurij discotaugliche Turntables vors Panoramafenster und lud jede und jeden ohne Ansehen von Kompetenz oder Geschmack dazu ein, sich im Kalender unterm Tresen einzutragen, um für eine Nacht zu sein, was andernorts Fachpersonal vorbehalten blieb: DJ.
eine allabendliche Kreismeisterschaft des Mediokren
Ich selbst hatte zuvor allenfalls mal für Freunde aufgelegt: situative Partybeschallung, bezahlt mit unkritischer Anerkennung. In der Egalbar aber gab es neben Freigetränken wählerische Zuhörer, von denen es je nach Promillepegel mal offene Abneigung hagelte, mal Lobeshymnen, oft beides in dichter Abfolge. Wobei nie ganz sicher war, dass der durchgedrehte Amateur mit Slayer und Schlager im Wechsel miesere Resonanz erhielt als der professionelle Kontrollfreak mit Mac und Sequencer. Es war eine allabendliche Kreismeisterschaft des Mediokren, in die sich bisweilen ein paar Könner verirrten oder allenfalls solche in spe.
Die hinreißende Jeanette Trèsbien wuchs hier von der Tesenkraft mit Lieblingsplatten zum angesehenen Resident-DJ des Gängeviertels. Dem etablierten Matthes Wiemer dagegen gehörte schon damals die Freitagnacht. Und ich? Verbrachte immerhin knapp die Hälfte meiner schönsten Kneipenabende hinter den schnapsverklebten Tellern der Marke Technics, denen im Gegensatz zur Egalbar etwas völlig Unerwartetes widerfahren sollte: sie haben überlebt. Bevor die Abrissbirne kam, hat sich ein tresenansässiges Künstlerpaar nämlich das ganze Mobiliar samt Discokugel und Seenotspendenschiff gesichert.
Seither bauen Elena Getzieh und Nils Emde ihr abgerissenes Refugium als Raum-in-Raum-Konstruktion an wechselnden Orten wieder auf: Paris, Leipzig, Kassel und einmal auch dort, wo es am 29. Februar 2012 nach 50.000 Betriebsstunden einem sterilen Glasstahlbau (immerhin für Kunst von Menschen mit Behinderung) gewichen war.
Die Wiedereröffnung der Egalbar
Gute zwei Jahre später machte die Egalbar also auf, als seien die 50 Quadratmeter nie weggewesen. Mit denselben Leuten, derselben Atemluft, demselben Interieur an lebensgroßer Fototapete. Es war ein Familienfest – himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt, versoffen wie früher und etwas trotzig. Dafür sorgte eine Ausstellung im Vorraum. Die pädagogisch tätige Hobbybastlerin Dani Schuster hatte den Phantomschmerz der amputierten Bar gemeinsam mit ihrer Freundin Alexandra Griess durch einen Miniaturnachbau im Schuhkarton kompensiert und das Ganze durch Fotos von Original und Fälschung garniert.
Nie zuvor allerdings und nie danach war die Trennung tränennasser als bei der Egalbar.
Unter dem Projektnamen BarKeepers haben sie seither mehrfach mit Miniaturen todgeweihter Clubs gegen die Verdrängung der Subkultur protestiert. Nie zuvor allerdings und nie danach war die Trennung tränennasser als bei der Egalbar. Ich muss das wissen. Dani Schuster heißt mittlerweile Freitag. Sie ist meine Frau. Und das womöglich auch ein wenig wegen unserer alten Stammkneipe. Vor der haben wir uns schließlich erstmals, na ja, erstmals nüchtern geküsst. Und drinnen tausendmal gefeiert, gesessen, geredet, aufgelegt. In einer Heimat namens Stammkneipe.
Die Bilder wurden freundlicherweise von Duckdalbenbilder zur Verfügung gestellt.