Alle wollen eine Altbauwohnung – ich will viel lieber nachts in Ruhe saugen können!
Hohe Decken, Stuck an den Wänden, der absolute Traum von allen, die gerade verzweifelt auf dem Wohnungsmarkt suchen. Als Holy Grail gilt der Altbau mit seiner ansehnlichen Ästhetik als ultimatives Statussymbol von Welt. Ein Interieurtraum, der glückselig in jedem erdenklichen Winkel auf Social Media inszeniert wird – #interriorlove. Aber auch analog sorgt der Altbau bei allen für beeindruckendes Staunen, neidische Blicke und verträumtes Schwärmen. Nur nicht bei mir. Mehr als ein "krass hier" oder "schon schön" habe ich nicht übrig für den Baustil, den ich heimlich hasse. Was nicht heißt, dass ich mich seiner optisch ansprechenden Art vollkommen entziehen könnte – Nein! Auch ich appreciate sie, schaue gerne Bilder solcher Wohnungen auf Instagram an, mit der nötigen Distanz. Denn ich zähle mich zu den (wenigen) Altbauhassern. Zumindest, wenn es um das eigene Bewohnen geht.
Alle flexen mit Altbau, aber ich will Beton!
Alles, was ich wollte, war Beton mit dicken Wänden. Alles, was ich fand, war Altbau. Und ja, wie das eben so ist, streicht man bei der Wohnungssuche einen Punkt nach dem anderen, bis wirklich nur die drei wichtigsten Suchkriterien übrig bleiben. Dabei fiel die Altbauabneigung zunächst unter den Teppich. Ich freundete mich an mit dem Gedanken an hellhöriges Wohnen und verzogener Holzboden – immerhin gibt es hier Stuck! Lächerlich, wie schnell man seine Prinzipien für die Ästhetik über Bord werfen kann. Aber auch ich bin just a Girl, das versucht zu verstehen, wieso Raufasertapeten, schiefe Dielen und hellhörige Wände in Kauf genommen werden, nur damit man beim nächsten Dinner mit einem "Ich lebe im Altbau" flexen kann? Oder wieso sind die großzügigen Räume fast in jedem Pinterestboard zu finden?
Aber auch ich bin just a Girl, das versucht zu verstehen, wieso Raufasertapeten, schiefe Dielen und hellhörige Wände in Kauf genommen werden, nur damit man beim nächsten Dinner mit einem "Ich lebe im Altbau" flexen kann?
Einer der Gründe scheint naheliegend – der architektonische Charme. Von außen wie innen wurde damals eben noch recht großzügig gearbeitet. Verschnörkelte Fassaden, hohe Decken, weite Raumgestaltung, Stuckverzierungen, aufwendige Holzarbeiten und große, lichtdurchlässige Fenster. Klar, dass das da Nein sagen schwerfällt. Vor allem, wenn besagte Altbauwohnung noch in der besten Lage der Stadt steht. Was will man da mehr? Extrem viel, denke ich! Denn ich will nachts saugen können! Egal zu welcher Uhrzeit. Eben dann, wenn es mir passt. Ich will meine Nachbarn nicht atmen hören und mir bei jedem Schlurfen, Trampeln, Poltern im Treppenhaus genervt denken: F-ü-ß-e h-e-b-e-n! Mittlerweile kann ich ganz routinemäßig die Uhrzeit an den Schritten im Flur ausmachen, die sich anfühlen, als würde man direkt an meinem Kopfkissen vorbeilaufen.
Lebst du noch oder magst du deinen Hausfrieden?
Außer eigener Erfahrung weiß ich also: Im Altbau verliert jegliche Großstadtanonymität ihr Gewicht. Auch wenn man sich in einem Mehrparteienhaus vielleicht noch nie gesehen hat, man hört sich. Man hat zwar beim Neueinzug noch keine Gesichter zu den Klingelschildern, doch niemand kennt einen besser als die eigenen Nachbarn. Deren Leben man in Extremfällen wie eine Soap durch die Wände verfolgen kann, die in einigen Wohnungen wie Papier scheinen. Man lebt also miteinander im duldenden Einvernehmen. Erträgt stillschweigend alles in Maßen. Immer darauf bedacht, die unausgesprochene Grenze nicht zu überschreiten – mit Musik, Gesprächslautstärke oder dem Beladen der Waschmaschine. Wie belastend zu Hause wie auf rohen Eierschalen zu leben. Geschickt knarrenden Dielen auszuweichen und ja nicht zu laut zu lachen, sobald es nach 22 Uhr ist.
Meine persönliche Hölle heißt Altbau: Ein Wohnformat, in dem und durch das Menschen zu ihren kleinkariertesten Formen auflaufen.
Als eine Person, die bisher nur in Nicht-Altbau-Wohnungen gewohnt hat, war genau das bei der damaligen Suche eins der wichtigsten Kriterien. Bloß kein Altbau. Denn aus Erzählungen zweiter Hand und den Besuchen bei Freund:innen weiß ich, wie belastend es lärmtechnisch sein kann, im Altbau zu leben. Nachbar:innen zu haben, die bei jedem Schritt klopfen oder nach kürzester Zeit an der Haustür klingeln und das Gespräch suchen. "Bitte einen Gang runterschalten". Eine meiner Lieblingsanekdote beinhaltet das unaufgeforderte Einwerfen von Bodengleitern im Briefkasten – unheimlich subtil. Wer brauch da noch Feinde? Meine persönliche Hölle hieß also bisher Altbau. Ein Wohnformat, in dem und durch das Menschen zu ihren kleinkariertesten Formen auflaufen. Bei jedem Dielenknacken "pscht" flüstern, leise ermahnen, nicht zu laut zu lachen und sich ja nur in Zeitlupe zu bewegen – am besten gar nicht, lass lieber woanders treffen.
Kampf der Giganten: Ästhetik vs Effizienz
Aber wozu hat man sie denn dann, diese unheimlich ästhetisch ansprechende Wohnung, wenn man in ihr nicht ausgiebig hosten kann, Filmabende veranstalten und Freund:innen für Get-togethers jeglicher Art zusammenbringen? Kürzlich unterhielt ich mich mit einer Freundin am Telefon über ihre Wohnungssuche. Nicht dringlich. Mehr so optional. Mit der Prämisse, wenn sie etwas Besseres finden würde. Über Umwege landeten das Gespräch beim Altbauangebot in Großstädten. Wer kennt nicht die Memes über mehr als unzureichend renovierte Bruchbuden und fensterlose WG-Zimmer? Oder die fragwürdigen Trade-Offs, in denen sich verzweifelt Suchende dazu breitschlagen lassen, für einige Monate Mieterlass die bruchbudenhaften vier Wände in Eigeninitiative zu renovieren. Doch wofür? Denn die wenigsten dieser charmanten Wohnung (Ausnahme sie wurden kernsaniert und modernisiert) sind so (energie-)effizient, dass es sich langfristig lohnen würde.
Das Leben im Altbau wird viel zu sehr romantisiert. Es lebt von einem Ruf, der besser ist als er selbst.
Angefangen beim Nachtspeicherheizungshorror, unzulänglicher Isolierung und diverser Alterserscheinungen der Bausubstanz. Die machen sich erst beim Wohnen und über einen längeren Zeitraum bemerkbar, lassen sich aber nicht wegignorieren. Ich glaube also sehr fest daran: Das Leben im Altbau wird viel zu sehr romantisiert. Es lebt von einem Ruf, der besser ist als er selbst. Denn da draußen existiert die überaus schön wirkende Vorstellung davon, dass der besondere Charme und die dadurch erzeugte Atmosphäre alles andere vergessen lässt. Flat-Love is blind mäßig. Ästhetik besiegt Praktikabilität und Effizienz, denn es macht sich eben gut. Und ist ein weiterer Bullet-Point auf der imaginären Liste für ein vermeintlich erfülltes Erwachsenenleben, an deren Ende meist sehr klischeehaft, Kind, Hund, Auto stehen. Aber das ist doch nicht der Allerweltstraum – oder?
Diagnose Altbauhass: Alles, was ich will, ist nachts in Ruhe saugen!
Ich wünsche mir mehr Liebe und Raum für industrielle Bauten, Großtafelbauweisen und massiven Neubau. Wohneinheiten mit Wänden wie Stahl, die jeden Lärm schlucken und das Zuhause in eine schallsichere Oase verwandeln.
Für mich persönlich ist es Hassliebe, Reibung und sich über Dinge ärgern, die man selten (ver-)ändern kann. Denn das Totschlagargument für alle Bedenken ist der hochgepriesene Altbaucharme – klar! Doch ich für meinen Teil wünsche mir mehr Liebe und Raum für industrielle Bauten, Großtafelbauweisen und massiven Neubau. Wohneinheiten mit Wänden wie Stahl, die jeden Lärm schlucken und das Zuhause in eine schallsichere Oase verwandeln. Sodass weder ich noch meine Nachbar:innen, den Musikgeschmack, das TV-Programm oder Sexleben der anderen bewerten und ertragen müssen. Was ich mir wünsche, ist eine Wohnung, in die ich zu jeder Uhrzeit reinschneien und ganz nach Gemüt eine Runde Staubsaugen kann – immer dann, wenn mir danach ist. Eine Wohnung, in der mir das Schleudern der Waschmaschine nicht maßlos peinlich ist oder jedes Möbelstück ein wenig schief steht, weil Boden und Wände sich über die Zeit verlebt haben.
Und immer dann, wenn ich mir mal wieder dringend wünschte, in meinem Leben wäre mehr Platz für Beton und rechtwinklige Ecken, erinnere ich mich an den Stress der Wohnungssuche, den Albtraum doch in einer Erwachsenen-WG zu landen und ermahne mich leise mit einem: "…aber, wo bleibt denn dann der Charme"?