Alle Jahre wieder: Weihnachten als Scheidungskind
Bereits im Juni dieses Jahres ploppte eine WhatsApp-Nachricht meiner Mutter auf: "Überleg' dir bitte, wo du dieses Jahr Weihnachten feiern möchtest", flimmerte auf meinem Display. Puh, gut okay. Es sind ja auch nur noch ganze sechs Monate bis Heiligabend, bis zu dem Datum, an dem gefühlt in jedem Scheidungshaushalt die Fronten noch einmal neu geklärt werden.
Alle Jahre wieder…
Man fürchtet sich jedes Jahr vor den gleichen, ziemlich beschissenen Tagen: Geburtstag, Ostern und eben Weihnachten. So geht es zumindest mir und dem Großteil meiner Freund*innen, denn Funfact: In meinem Freundeskreis sind neun von zehn Elternpaaren geschieden. Bereits Monate vor Weihnachten stellt sich ein mulmiges Gefühl ein, welches meist mit "Boah! Ne, ich hab' echt gar keinen Bock. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich hin soll, am liebsten würde ich Weihnachten streichen", zum Ausdruck gebracht wird. Ich kenne dieses Gefühl sehr gut, da dieser Satz auch genauso aus meinem Mund blubbern könnte. Denn: Zum einen hat man als Scheidungskind an Weihnachten ständig das Gefühl mindestens eine Person zu enttäuschen und zum anderen wird einem jährlich schmerzlich vor Augen geführt, dass das "Konzept Familie" im eigenen Leben mit Ach und Krach gescheitert ist.
Wer emotional nicht komplett abgestorben ist, wird an Weihnachten stets einen kleinen Herzschmerz fühlen und sich lieber mit Freund*innen in der nächsten Bar oder Kneipe treffen, bevor Mutti anfängt psychologische Gespräche über das, was war und noch sein wird, zu führen.
Aber, wie immer im Leben, bestätigen Ausnahmen die Regel: Es soll die seltene Gattung Familie geben, die auch nach Scheidungen gemeinsam an einem Tisch sitzt und feiert – wo Mama oder Papa sogar den* die neue*n Partner*in mitbringt, ohne dass der dritte Weltkrieg ausbricht und die Feuerwehr gerufen werden muss. Aber, wie gesagt: Ausnahmefall. Herzlichen Glückwunsch an alle, denen dieses Glück zuteilwird.
364 Tage Entscheidungsprozess und dann ganz plötzlich: Heiligabend
Wie auch in diesem Jahr kam Heiligabend natürlich total überraschend. Monatelang versteckt man sich vor der alles entscheidenden Frage: zu Mama oder zu Papa? Keiner will natürlich Druck machen, doch irgendwie macht man ihn sich doch selber im Entscheidungsprozess. Letztes Jahr war man bei Papa, dieses Jahr dann zu Mama? Aber eigentlich ist bei Papa doch cooler oder umgekehrt? Da kann einem schonmal der Kopf rauchen.
Der Höhepunkt des Schlamassels ist dann erreicht, wenn man circa Mitte zwanzig ist – also anscheinend offiziell zurechnungsfähig und erwachsen – und von gekränkten Eltern Antworten bekommt wie, "Da muss ich mal schauen, wie ich das mit dir organisiere an Weihnachten. Ich bin eigentlich schon verplant." Ah, ok. Ich bin jetzt also meine eigene Familie. Kein Problem.
Hat man dann eine Entscheidung gefällt, steht einem ein Abend voller Unbehagen bevor: Alte Kamellen werden aufgetaut, im Zweifelsfall heult eine*r und irgendwie meint doch jeder, man müsse das arme Scheidungskind therapieren. Als würde man sich nicht eh schon schlecht genug fühlen – Stichpunkte: gescheiterte Familie und schlechtes Gewissen sich selbst, der Welt und den Eltern gegenüber – lässt man auch noch diesen Humbug über sich ergehen und sieht zu, dass man nach der Völlerei und Bescherung schnell die neuen Sneaker schnürt und sich aus dem Staub macht. Eben zu denen, die ein ähnliches Schicksal teilen.
Lernt sie zu lieben, wie sie sind – denn Familie bleibt Familie
Mit steigendem Alter und steigender Zurechnungsfähigkeit begreift man, dass das Schicksal einem in Sachen Familienglück eventuell keinen Straight Flush zugespielt hat. Spoiler: Das wird sich auch nicht mehr ändern, nicht in diesem Leben. Also: Man muss es nehmen, wie es kommt und einfach das Beste draus machen. Bevor ihr euch also grämt, ärgert und Tränen kullern – genießt lieber die Zeit, die ihr mit euren Eltern habt. Egal ob ihr zu dritt oder zu zweit unterm Bäumchen hockt. Und selbst wenn jemand anders auf Mamas oder Papas Platz sitzt, seid gute Kinder – euren Eltern zuliebe.
Was mich betrifft: Ich würde meine verrückten Eltern niemals eintauschen wollen, denn sie haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Bevor ich mich also in eine heile "Rama-Familie" mit Golden Retriever und selbst gestrickten Pullovern wünsche, in der ich eh nicht glücklich wäre, trinke ich lieber mit meinen beiden Eltern einen guten Wein und erzähle, was mich momentan bewegt. Und mir wird sogar zweimal zugehört.