Zwischen Geburtslotto, Landschaften und Emotionen: Was ist Heimat?
Anlässlich der bevorstehenden Europawahl haben auch wir uns in der Redaktion dazu Gedanken gemacht. Dass Wählen gehen wahnsinnig wichtig ist und es Unmengen an Informationsmaterial zur Wahl gibt, wisst ihr schlauen Leser*innen natürlich schon. Wir wollen mit dieser Textreihe auf einen sehr persönlichen Punkt eingehen, der uns alle beschäftigt und bei jedem anders definiert ist. Wir möchten in Zeiten von zunehmendem Nationalismus, der auch immer häufiger in öffentlichen Diskussionen stattfindet, wissen: Was bedeutet Heimat und wie definieren wir sie für uns?
Damit ihr meine Definition von Heimat versteht, muss ich etwas weiter ausholen. Ich bin im tiefsten Osten in Deutschland geboren, genauer gesagt in Köthen, Sachsen-Anhalt. Köthen war die dritte Station meiner Eltern, nachdem sie 1989 aus Vietnam ausgewandert sind, zwei Jahre Halt in der Slowakei gemacht haben und dann über Frankfurt am Main nach Sachsen-Anhalt verfrachtet wurden. Ich verbrachte dort die ersten sieben Jahre meines Lebens und erinnere mich wie mir dicke Tränen von den Wangen kullerten, als ich meiner Schuldirektorin sagen musste, dass ich umziehen werde.
Bis zu diesem Zeitpunkt war Köthen meine Heimat. Ich hatte alle meine Freund*innen dort, viele auch mit vietnamesischen Wurzeln. Wir waren alle eine große Familie, auch wenn wir nicht (bluts)verwandt waren. Unsere gemeinsame Abstammung und das tägliche Beisammensein schweißten uns zusammen und als Kind waren mir Probleme wie Rassismus, Aufenthaltsgenehmigungen und Arbeitserlaubnisse nicht bekannt. Für mich war es einfach nur furchtbar, dass ich Freund*innen, die Schule und meine gewohnte Umgebung verlassen musste.
Ist meine Heimat auch mein Geburtsort?
Dann ging es weiter nördlich in den Harz nach Clausthal-Zellerfeld. Mein Papa bekam durch Freunde einen Job als Hausmeister in einem Seniorenzentrum und meine Mama arbeitete fortan als Zimmermädchen in einem Hotel. Ich kam in eine neue Klasse und glücklicherweise konnte ich mich schnell mit den Mädchen dort anfreunden. Von dem Zeitpunkt an waren Marie, Mareike, Krissy und Saskia meine engsten Freundinnen, mit denen ich Kindergeburtstage feierte, Freundschaftsbücher teilte und erste DVD-Abende verbrachte.
Vietnames*innen gab es in meinem neuen Wohnort nicht und auch generell merkte ich schon, dass in der 15.000-Einwohnerstadt auch sonst nicht wirklich viel los war. Mein Papa lieferte am Wochenende zusätzlich Pizza aus, damit er seine Familie in Vietnam finanziell unterstützen konnte. Trotz aller Bemühungen erschienen mir meine Eltern nicht glücklich. So kam, was kommen musste: Nach dreieinhalb Jahren wurden auch im Harz die Zelte abgebrochen und ich musste mich ein weiteres Mal tränenreich von meinen lieb gewonnenen Freund*innen verabschieden.
Die nächste Station wird einigen von euch bekannt sein. In meiner Kolumne „Servus Hamburg“ spreche ich, wenn ich von „Dahoam“ rede vom Allgäu. 2003 zogen wir nach Kempten, der Hauptstadt des Allgäus und an keinem anderem Ort habe ich bisher so eine lange Zeit verbracht wie dort. Ich bin dort vom Mädchen zur jungen Frau geworden, habe mein Abitur gemacht, meine ersten Parties gefeiert, mich verliebt, Freund*innen für’s Leben gefunden und diese Zeit einfach am intensivsten in Erinnerung.
Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Dinge in Frage gestellt. Ich bin in den Zwiespalt meiner vietnamesischen Wurzeln und der deutschen Kultur gekommen und wollte doch, als hochhormoneller Teenie einfach nur dazugehören. Denke ich an’s Allgäu, denke ich an wunderschöne Naturlandschaften, herzliche und tolle Menschen und wahnsinnig gutes Essen. Denke ich an’s Allgäu wird mir warm ums Herz und ich fange an meine Familie zu vermissen und bekomme sowas wie Heimatgefühle.
Wenn beim Abschied eines Ortes, eines Zuhauses oder Gegend Tränen der Trauer fließen, dann hat man dort eine Heimat gefunden.
Und da haben wir es: das Wort Heimat. Ist das Allgäu jetzt meine Heimat? Jein. Hier muss ich noch ein bisschen weiter ausholen. Da es mich, wie meine Eltern, immer weitergezogen hat und ich mir nicht vorstellen konnte die Jahre nach dem Abitur im Allgäu zu verbringen, hatte ich Stationen in Würzburg, Ulm und eben nun auch Hamburg. An all meinen fünf Wohnorten fühlte und fühle ich mich wohl, von keinem würde ich aber behaupten dass es meine einzige Heimat ist.
Heimat ist für mich soviel mehr als der Geburtsort. Denn meinen Geburtsort kann ich mir nicht aussuchen. Eine Heimat muss für mich kein einziger Ort sein, keine einzige Stadt oder ein einziges Land. Wenn ich mit meinen Eltern über Heimat rede, reden sie immer von Vietnam. Auch, wenn sie mittlerweile länger im Ausland leben, als sie in Vietnam gelebt haben, ist ihre Heimat da, wo sie aufgewachsen sind und wo ihre gesamte Familie noch lebt. Ein Gespräch zwischen meinen Eltern und meinem Freund fängt oft mit dem Satz „In meiner Heimat…“ an und es ist klar, was sie damit meinen. Auch für mich war lange Zeit immer Vietnam meine Heimat. Bis ich zu meiner Volljährigkeit die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt. Auf einmal hatte ich einen deutschen Personalausweis und auf dem Papier war ich keine Vietnamesin mehr. Habe ich mit diesem Schritt meine Heimat verraten?
Nationalität ≠ Identität ≠ Heimat
Es hat einige Jahre gedauert bis ich verstanden habe, dass Heimat kein Begriff ist, den man abschließend definieren kann. Für jeden bedeutet Heimat etwas anderes und wer sagt denn, dass ein Mensch nur eine Heimat haben darf? Ich habe mehrere Heimaten. Mein kulturelle Heimat liegt im Geburtsland meiner Eltern, Vietnam, meine persönliche emotionale Heimat liegt in der Region Allgäu und meine jetzige Heimat, wo ich mich voll aufgenommen fühle und wo ich meine Werte ausleben kann, ist die Stadt Hamburg. Mit jeder Heimat verbinde ich gute und schlechte Dinge, jede Heimat trägt zu meiner Persönlichkeit bei und macht mich zu dem Menschen, der ich bin und am 26.05. werde ich mich für eine neue Heimat entscheiden: Ich stimme für ein vereintes Europa.