Wenn der Geburtsort zum gemiedenen Ort wird: Kann man eine neue Heimat finden?

© Lena Müller

Anlässlich der bevorstehenden Europawahl haben auch wir uns in der Redaktion dazu Gedanken gemacht. Dass Wählen gehen wahnsinnig wichtig ist und es Unmengen an Informationsmaterial zur Wahl gibt, wisst ihr schlauen Leser*innen natürlich schon. Wir wollen mit dieser Textreihe auf einen sehr persönlichen Punkt eingehen, der uns alle beschäftigt und bei jedem anders definiert ist. Wir möchten in Zeiten von zunehmendem Nationalismus, der auch immer häufiger in öffentlichen Diskussionen stattfindet, wissen: Was bedeutet Heimat und wie definieren wir sie für uns?

Suche ich nach der Definition des Wortes Heimat, spuckt Google folgendes aus "Land, Landesteil oder Ort, in dem man [geboren und] aufgewachsen ist", ich schlucke kurz in Anbetracht dessen wohl einer unschönen Wahrheit ins Auge blicken zu müssen, lese weiter "oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt (oft als gefühlsbetonter Ausdruck enger Verbundenheit gegenüber einer bestimmten Gegend)" stelle erleichtert fest, nochmal Glück gehabt zu haben und mich nicht bis an mein Lebensende mit dem Gedanken quälen zu müssen, dass Hannover meine Heimat ist. Es ist viel mehr der Ort, an dem ich geboren bin, keine Heimat.

Sky is the limit? How claustrophobic

Unser Verhältnis, liebes Hannover hat sich über die Jahre (und vielleicht auch mit meiner zunehmenden Reife) gebessert und trotzdem werde ich einfach nicht warm mit dir. Für die meisten von euch ist Hannover wahrscheinlich die Stadt, in der ihr mal am Hauptbahnhof von Gleis zu Gleis gerannt seid oder mal auf einer Messe wart. Und genau das, was ihr wahrscheinlich mit Hannover assoziiert, fühle ich auch: Für mich ist Hannover ein Ort der puren Tristesse, der mir suggeriert in meinen Möglichkeiten beschränkt zu sein. Aber ich will nicht unfair sein: Die Stadt hat auch ihre guten Seiten, mich einiges gelehrt und zu dem gemacht, was ich heute bin. Ich wäre nirgends anders lieber aufgewachsen, als in Hannover doch zurück will ich auch nicht.

Gehen, um Platz für neues Licht zu machen

Hannover ist perfekt, zum Aufwachsen: eine kleinere Großstadt und um ehrlich zu sein ziemlich rough, man lernt eben sich durchzusetzen, denn wirklich warm oder angenehm ist es eben nicht in Hannover – am besten immer ein bisschen vorlauter, als die anderen sein und sich niemals die Butter vom Brot nehmen lassen. Dadurch, dass Hannover eine sehr kleine Großstadt ist, kennt man sich untereinander, heißt im Umkehrschluss: Man lässt sich ein super dickes Fell wachsen, das alle Gemeinheiten und Gerüchte nur so abprallen lässt. Ich habe in Hannover vor Glück und Schmerz geschrien, mich mit meinen Eltern gezofft, mir das Herz brechen lassen, gefeiert und die Schule nicht so Ernst genommen, wie ich sollte.

Meine fast 20 Jahre Hannover zusammenzufassen, ist in einem Artikel unmöglich– zu viele wilde und unvergessliche Geschichten, zu viele Kopfschüttler,  was ich aber guten Gewissen sagen kann: Egal wie prägend diese für mich unverzichtbaren Erfahrungen waren, klebt an jeder einzelnen ein fader Beigeschmack, so als würde ein dunkler Fluch auf der Stadt liegen. Also ging ich und suchte mir eine neue Heimat.

Lass uns Frieden schließen

Lena in Hannover
2012 – Drei meiner damaligen engsten Freundinnen.

Ich zog direkt nach meinem Abitur nach Hamburg – bin hier irgendwie gestrandet, wollte eigentlich nach Berlin. Heute würde ich Hamburg für kein Geld dieser Welt mehr verlassen, es ist schließlich mein Zuhause. Hamburg ist meine Heimat. Ich habe es geschafft, bin angekommen und (m)eine neue Heimat gefunden. Wie Giovanni di Lorenzo pflegt zu sagen "Wer in Hamburg ankommt, hat ein Zuhause fürs Leben". Doch bevor ich nun anfange eine kitschige Lobrede auf Hamburg zu halten: Hat mein Umzug etwas an meinem Verhältnis zu Hannover verändert? Wenn ja: Was?

In den vielen Jahren, die nun Hamburg meine Heimat ist, war ich streckenweise zehn bis zwölf Monate nicht in meiner Geburtsstadt. Wozu denn auch? Ich war doch schon längst Zuhause, also eben in Hamburg. Doch je länger ich nicht mehr in Hannover wohne, schließe ich Frieden mit der Stadt.

Sehe meine Aufenthalte dort als Kurzurlaub: Bummeln mit Mama und Essen bei Papa. Eben das, was ich in Hamburg nicht mache. Und über die Hannover-Kids mit denen ich einst zur Schule gegangen bin, kann ich heute nur noch lachen. Weil sie festhängen in einer Stadt in der sie vielleicht die Geilsten sind, aber noch nie irgendwo anders gelebt haben und sich integriert haben. Das entspannt mich. So wie sich unser Verhältnis entspannt, liebes Hannover.

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