Vergnügte Viertel damals und heute: Wilhelmsburg
Wilhelmsburg — Hamburgs flächenmäßig größter Stadtteil hat so viel mehr zu bieten, als sommerliche Festivals, Open Airs und Co. Hier sind die Mieten noch verhältnismäßig günstig, an den Kanälen spürt man die pure Idylle und es ist so multikulturell, wie in kaum einem zweiten Stadtteil. Hier treffen der Charme des einstigen Arbeiter- und Hafenviertels auf viel Grün, viel Kultur und viel Geschichte.
Eins vorweg: Von vielen Seiten wird behauptet, Wilhelmsburg sei die größte Flussinsel Europas — doch das ist nicht wahr. In der Donau gibt es jede Menge größere Inseln, die Große Schüttinsel in der Slowakei ist sogar mehr als 50 Mal so groß wie Wilhelmsburg. Aber: Wilhelmsburg ist immerhin die größte Elbinsel und gleichzeitig größte Binneninsel Deutschlands. It’s something!
Wo heute Energiebunker, Wasserturm und Windmühle Johanna stehen, schmolzen vor rund 11.700 Jahren die letzten Holsteinischen Gletscher. So entstand zwischen den Geesträndern im Norden und Süden vom heutigen Wilhelmsburger Stadtgebiet ein Meer von Inseln. Nach und nach siedelten sich hier die ersten Menschen an, die in so genannten „Warften“ oder „Wurften“ lebten, das sind künstliche Erdhügel, die vor Hochwasser schützen.
Deiche, Deiche, Deiche
Ab 1333 begann man mit der Kulturlandgewinnung — nach und nach entstand so die Elbinsel Wilhelmsburg. 1672 erwarb Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg-Celle drei große Elbinseln, die durch Verbindungsdeiche miteinander verbunden wurden und fortan unter dem Namen „Wilhelmsburg“ bekannt waren. Die längste Straße Wilhelmsburgs, die Georg-Wilhelm- Straße, erinnert heute noch an den Gründer.
Das „idealste Industriegebiet des Deutschen Reiches“
Hamburg errichtete 1888 mit dem Anschluss an das deutsche Zollgebiet den Freihafen. Als die ersten Schiffswerften entstanden, siedelten sich viele Schiffszimmerer an, deren Genossenschaftswohnhäuser das Stadtbild des Viertels bis heute prägen. Wilhelmsburg war damals die größte preußische Landgemeinde am Südufer der Elbe. Der damalige preußische Staatsminister Südekum sagte sogar: „Wilhelmsburg ist das idealste Industriegebiet des Deutschen Reiches!" Schnell entstanden neue Industriegebiete und Mietkasernen für die Arbeiter. Der erste industrielle Großbetrieb war die Hamburger Wollkämmerei, die 1890 bereits 1.000 Beschäftigte zählte.
Klein-Warschau in Wilhelmsburg
Für viele Menschen aus der damals zum Deutschen Reich gehörenden Provinz Posen war Wilhelmsburg eine Chance, um ihre Armut als Landarbeiter zurückzulassen. Aktiv wurden hier neue Arbeitskräfte geworben, da man um die Armut der Landbevölkerung und die damit einhergehende Bereitschaft zum Auswandern wusste. Mit der Einwanderung vieler Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturen, wurde aus Wilhelmsburg ein multikultureller Ort. Zu Beginn der 20. Jahrhunderts gab es hier Berufsvereinigungen, Kleintierzuchtvereine, Gesangsvereine, Theater- und Musikclubs, Sportvereine, Kegelclubs und Lotterieklubs. 1925 wurde Wilhelmsburg schließlich mit 32.000 Einwohner*innen zur kreisfreien Stadt erklärt.
Die große Sturmflut
Die Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 sollte als Katastrophennacht in die Geschichte Wilhelmsburgs eingehen. In dieser Nacht kam es zu einer verheerenden Flutkatastrophe an der deutschen Nordseeküste. Anfang der sechziger Jahre gab es noch keine Wettersatelliten, weshalb plötzliche Wetteränderungen oft erst erkannt wurden, wenn es bereits zu spät war. In Hamburg gab es zu diesem Zeitpunkt eine Vielzahl an städtebaulichen Mängeln und die Deiche waren zum Teil schlecht gepflegt. Die Folge: Viele Deiche brachen.
Der Klütjenfelder Hauptdeich (wo sich eine ständig bewohnte Kleingartensiedlung befand), war einer dieser schlecht gepflegten Deiche. Für die rund 200 Bewohnerinnen und Bewohner kam jede Hilfe zu spät — nicht mehr vom Hauptdeich geschützt, liefen die Siedlungsgebiete voll. Rettungsmaßnahmen waren somit nur noch mit Booten möglich. Die Wellen waren teilweise mehrere Meter hoch und spülten die Anwohner*innen in die Keller, in denen sie ertranken oder von ihren einstürzenden Häusern erschlagen wurden.
Ganze Straßenzüge und Industrieanlagen wurden während der Sturmflut zerstört. Selbst langjährige Wilhelmsburger*innen verließen daraufhin ihr Viertel. Mit dem Aufkommen modernen Containertechnik hatten viele Hafenarbeiter keinen Job mehr, wodurch sich in den 70er Jahren Arbeitslosigkeit ausbreitete.
Jung, kulturell und lebendig
Das heutige Wilhelmsburg hat wieder zurück in die Mitte der Gesellschaft gefunden, aber trotzdem seinen Inselcharakter nicht verloren. Gründerzeithäuser, kleine Lokale und die einzigartige Natur ziehen immer mehr Menschen auf die andere Seite der Elbe. Die Wilhelmsburger*innen sind verhältnismäßig jung — ein Viertel der rund 54.000 Bewohner*innen sind unter 25 Jahre alt.
Im beliebten Reiherstieg-Viertel lässt sich wunderbar an den stuckverzierten Gründerzeithäusern bis zum Stübenplatz entlangschlendern, wo zweimal wöchentlich ein Wochenmarkt stattfindet. Einige Schritte weiter, am Veringkanal, liegt das Kulturzentrum „Honigfabrik“, das bis 1978, wie der Name schon sagt, eine Honigfabrik war. Nach einer Grundrenovierung und Erweiterung 2008, entstand hier das selbstverwaltete soziokulturelle Zentrum aus Aktivitäten der Jugendzentruminitiative Wilhelmsburg.
Viel zu entdecken
Lauft ihr weiter den Kanal entlang, kommt ihr am Atelierhaus23, dem Kreativzentrum Wilhlemsburger Zinnwerke und an der ehemaligen Soul Kitchen, dem Drehort des gleichnamigen Films von Fatih Akin vorbei. Alternativ könnt ihr auch von der Ernst-August Schleuse am Spreehafen weiterwandern. Auf dem grünen Deich könnt ihr bei einem kühlen Bier in der Hand am Horizont die Innenstadt-Silhouette bestaunen und sogar einen Blick auf die deutlich sichtbare Elbphilharmonie erhaschen.
Ihr seid nicht so gut zu Fuß? Kein Problem! Mit der legendären Wilden 13 lässt sich Wilhelmsburg problemlos per Bus erkunden. Und wenn euch danach ist, dem ganzen Großstadttrubel zu entfliehen, dann besucht ihr einfach das im Südosten Wilhelmsburgs gelegene Naturschutzgebiet Auenlandschaft Obere Tideelbe, wo eine Reihe an seltenen Pflanzen- und Tierarten leben. Ihr merkt schon: Ein Besuch ist Wilhelmsburg allemal wert! Also kauft euch am nächsten Wochenende eine S-Bahnfahrkarte und erkundet das spannende Viertel südlich der Elbe.
Vergnügte Fakten
Essen und Trinken
Cheesecake naschen bei Vollmundig Cheese | Skyline gucken im Café vju im Energiebunker Wilhelmsburg | fruchtige Bowls in der Kaffeeklappe | Party und Pizza im TurTur | leckere Kuchen am Veringkanal im Café Pause | Kaffee oder Bier in der Deichdiele | schnabulieren bei Mam’s Bistro & Bar | Köstliche Ramen schlürfen bei Aomame | türkisches Frühstück und Mezze im Cokur Tost | Frühstück à la Carte im Knusperkeks
To-Do
über den Friedhof der guten Ideen spazieren | Kanus und Kaffee in der Willi Villa | Abhängen und Grillen am Veringkanal | Mit der Wilden 13 durch Wilhelmsburg | Tanzen beim MS Dockville | an einer Führung durch den Energiebunker teilnehmen | mit dem Drahtesel durch den Alten Elbtunnel radeln