Märchen und Philosophisches: 11 feine Bücher zum Verschenken
Es waren einmal 11 Bücher, in denen knisterte es dieses Jahr geheimnisvoll. Dünn waren sie und fein, mit schönen Einbänden und noch schönerem Inhalt. Darin plätscherten magische Bergseen und standen Märchenhäuser im Wald. Füchse, Wölfe, Schafe raunten uns ihre Geschichten zu und weise (sowie nicht allzu weise) Frauen und Männer unternahmen die Abenteuer ihres Lebens. Seite für Seite flatterten uns Fabeln und Sagen entgegen, Märchen und philosophische Geschichten, Gedichte und Reden, die zum Nachdenken einluden.
Die Bücher flüsterten: „Aber Leser, was macht Ihr für große Augen?!“
Wir antworteten: „Damit wir Euch besser lesen können!“
Und wenn Ihr sie noch nicht gelesen habt, dann warten sie noch heute… im Bücherregal auf Euch. Viel Spaß beim Stöbern und Verschenken!
1. „Der See der Seelen“ von Tim Krohn
Die Großmutter, der Wolf und das Mädchen. Ja, sind wir hier in Rotkäppchens Welt hineingestolpert? Nein, wir nähern uns Niculinas fantastischer Bergwelt und dem „See der Seelen“. Märchenhaft geht es trotzdem zu. Morgens treibt das Mädchen die Geißen auf die Weide. Dort wartet bereits die gleichaltrige Ladina, die vom gemeinsamen Hof träumt. Zum Träumen hat Niculina aber keine Zeit. Denn Niculinas Eltern bangen um den Hof und die heißgeliebte Nona liegt im Sterben. Deshalb folgt Niculina dem geheimnisvollen Ruf eines Wolfes und macht sich auf die Suche nach einem See im Piz Spiert. Dort will sie das Wasser des Lebens finden und die Großmutter retten.
Autor Tim Krohn beschenkt uns mit einer Alpensage um den Ursprung des Lebens. Er entführt uns in ein unberührtes Tal, lässt Tiere sprechen und einen Garten voller Lupinen erblühen. Mit Niculina lernen wir dabei in nur 86 Seiten die Kunst des Liebens, des Festhaltens und Loslassens neu kennen. Vielleicht geht es in dieser zarten Alpensage auch einfach nur um einen jungen Menschen, der versucht, die guten Entscheidungen zu treffen. Wir sind ein bisschen verliebt. In die Geschichte, aber ebenso in das Art-déco-Cover, das den Silvaplana-See des Kantons Graubünden abbildet. Und auch in Wörter wie Wildmanndli und Giki-Gäki.
Der erste Satz: „Niculina trieb jeden Morgen die Geißen hoch auf die Foppa da trais, eine kleine Senke mit gutem Gras und einem Bächlein.“
Das Buch: Tim Krohn | „Der See der Seelen“ | Gatsby Verlag | August 2019
2. „Fuchs 8“ von George Saunders
Fuchs 8 – dieser Fuchs! – schreibt einen Brief an die Menschen. Die Menschen, eine eigenartige Spezies, hat er genau beobachtet und belauscht, zum Beispiel, wenn sie sich abends Gute-Nacht-Geschichten vorlesen. Daher kann Fuchs 8 nicht nur füchsisch sprechen, sondern auch menschisch schreiben. Zugegeben, seine Rechtschreibung ähnelt der eines Erstklässlers, aber genau dieses Stilmittel lässt uns noch etwas aufmerksamer lesen, immer wieder mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Allen Rechtschreibfehlern zum Trotz halten wir aber keinesfalls ein Kinderbuch in den Händen. Vielmehr eine Fabel, die Kopf steht. Gleich zu Anfang stellt Fuchs 8 klar, dass die klassische Fuchsrolle den Menschen zukommt. Ihre Schläue lässt sie beispielsweise die „Mool“ bauen. „Konnten Fükse so was? Vergisses! Unsern Bau buddeln, das war‘s“, erklärt uns der tierische Erzähler. Voller Bewunderung merkt Fuchs 8, dass ihre Cleverness die Menschen satt und reich macht, doch auch, dass Menschen leider nicht menschlicher sind, als es der fiese Fuchs der Fabel ist. Ein Schluss, der uns nicht kalt lässt: „Wenn ir wollt, das oire Geschichten ein Heppi Ent haben, seit einfach mal ein bisschen netter.“ 56 Seiten mit zauberhaften Illustrationen und einem unmissverständlichen Appell an uns selbst: Menschen, seid menschlicher.
Der erste Satz: „Liebe Leserinen und Leser: Zuers möchte ich sagen, Entschuldigung für alle Wörter di ich falsch schreibe.“
Das Buch: George Saunders | „Fuchs 8“ | Luchterhand Verlag | Oktober 2019
3. „Die Puppe im Grase“ von Kat Meschnik
Es war einmal ein kleines, peppiges Märchenbuch. Goldene Äpfel und gläserne Berge wollten darin entdeckt werden. Winzige Puppen und sprechende Tiere, Trolle und ein Teufel, der in einer Nuss Platz hatte. Die Erzählungen stellten uns Eisbären, Däumlinge, Prinzen und Bräute vor. „Die Puppe im Grase“ ist bereits der 7. Band der illustrierten „Lieblingsbücher“-Reihe von Kat Meschnik. Darin lernen wir kurze Märchen der „norwegischen Gebrüder Grimm“, Peter Christen Asbjørnsen und Jørgen Moe, kennen. Ihre Geschichten sind teils phantastisch, manchmal düster, oft absurd komisch, allesamt verbunden mit der Natur. Wie in Grimms Märchen geht es auch bei den Asbjørnsen und Moe nicht immer sehr friedfertig zu: Die ein oder andere Verletzungen können die Helden schon einmal abbekommen. Wem des Königs Anliegen nicht gelingt, dem werden beispielsweise knallhart die Ohren abgeschnitten. Passt beim Lesen also bitte auf Eure Körperteile auf!
Der erste Satz: „Als unser Herr Christus und St. Petrus noch auf Erden einherwandelten, kamen sie einmal zu einer Frau, die bei ihrem Backtrog stand und den Teig knetete.“
Das Buch: Kat Meschnik (Illustrationen), Peter Christen Asbjørnsen, Jørgen Moe| „Die Puppe im Grase. Norwegische Volksmärchen“ | Galiani Verlag | September 2019
4.„Die zehn Kinder, die Frau Ming nie hatte“ von Eric-Emmanuel Schmitt
Frau Ming, die in einem Grandhotel in der chinesischen Provinz Guangdong die Toiletten putzt, tritt auf einen Handelsreisenden aus Frankreich, der im Gespräch mit ihr sein Kantonesisch aufbessern will. Liebevoll erzählt ihm die „dame pipi“ die schillerndsten Geschichten über ihre zehn Kinder, die verstreut in ganz China leben. Da wäre zum Beispiel Wang, der fiktive Gärten verkauft. Li Mei, die Betrügern ihre Lügen ansieht. Oder Kun und Kong, die im Nationalzirkus auftreten. Halt, wartet! Herrscht in China nicht das Ein-Kind-Gesetz? Kein Wunder, dass der Franzose Frau Ming zunächst kein Wort glaubt. Mit der Zeit machen jedoch die Überzeugung und Güte, mit der Frau Ming erzählt, den Geschäftsmann geradezu abhängig von ihr. Frau Ming spuckt schließlich wie ein Glückskeks-Automat eine konfuzianische Weisheit nach der anderen aus und hilft dem ewig Reisenden auf ihre Art, seinem Leben eine neue Wendung zu geben. Was ist aber nun mit Frau Ming und ihren Kindern? Was ist mit der Wahrheit? „Die Wahrheit… Ist das nicht nur die Lüge, die uns am besten gefällt?“ Der französische Bestseller-Autor Eric-Emmanuel Schmitt macht in dieser Erzählung das, was er am besten kann: In wenigen Worten spinnt er ein farbenreiches Lebensmärchen.
Der erste Satz: „China ist kein Land, China ist ein Geheimnis.“
Das Buch: Eric-Emmanuel Schmitt | „Die zehn Kinder, die Frau Ming nie hatte“ (Taschenbuch) | S. Fischer Verlag | 2019
5. „Der Weg des Bogens“ von Paulo Coelho
Der weltbeste Bogenschütze Tsetsuya lebt zurückgezogen in einem kleinen Dorf. Eines Tages spürt ihn ein anderer Bogenschütze auf und fordert ihn heraus. Tsetsuya gewinnt den Wettkampf und gibt daraufhin die „Lehre des Bogens“, Kyudo, an einen Jungen im Dorf weiter. Pfeil, Bogen, Ziel, Haltung. Klar: Hier geht es nicht nur um die japanische Kunst des Bogenschießens, sondern um die Kunst des Lebens. Eine philosophische Betrachtung, eingebettet in eine Rahmenhandlung, in der ein Meister seine Fertigkeiten erklärt. Mit zarten Bildern illustriert, poetisch und – typisch Coelho – voller kleiner Häppchen an Lebensweisheiten.
Der erste Satz: „‘Tsetsuya?‘ Der Junge blickte den Fremden ganz erstaunt an.“
Das Buch: Paulo Coelho | „Der Weg des Bogens“ | Diogenes Verlag | Oktober 2019
6. „Ollis Fest“ von Karen Nölle
mit wenigen Worten und ohne viel Tamtam Glück und Leichtigkeit versprühen? „Ollis Fest“ ist eine solche Geschichte. Einen Sommertag lang lässt ein Hirte seine kleine Schafsherde auf einer saftigen Dorfwiese grasen. Für die drei jungen Schafe Olli, Gabi und Elvira – gestatten: die drei Grazien – ist es das erste „Grünfest“. Schließlich ist die Herde immer nur in den Dünen unterwegs. Auf der Wiese treffen sie nun auf Dorfschaf Bruno, der sie zum Tanzen und weiterem lustigen Unfug anstiftet. Kurzum: Der Tag wird zur wilden Sause! Wir geben der tanzenden Schafsdame recht: »Olli könnte sich kugeln, so glücklich ist sie. Nie, nie soll das aufhören.« Beim Lesen fallen da unweigerlich Sonnenstrahlen auf unsere Nasenspitzen. Ein wahrer Geheimtipp also für alle Hamburger/innen mit Vitamin-D-Mangel, quasi ein Sommer-Bonbon für den Winter-Heißhunger, made by the fabulous edition fünf.
Der erste Satz: „Olli liegt in einer Mulde und schläft.“
Das Buch: Karen Nölle | „Ollis Fest“ | edition fünf | September 2019
7. „Agathe“ von Anne Cathrine Bomann
Ein Psychiater zählt die Tage bis zur Aufgabe seiner Praxis. Unzählige Wehwehchen und Zipperleins, große Sorgen und kleine Nöte hat er sich angehört – oder auch nicht. Er hat jede Art der Depression schon zu oft gesehen, als dass es ihn noch berühren könnte. Je näher der Tag des Ruhestandes rückt, desto größer wird jedoch die Unruhe des Arztes. Was wird den alleinstehenden, zurückgezogen lebenden Mann erwarten? „Was, wenn sich herausstellte, dass das Dasein außerhalb der Mauern meiner Praxis ebenso sinnlos war wie hier drinnen?... All die Jahre war ich überzeugt gewesen, dass das richtige Leben, die Belohnung für all die Mühsal, mit dem Eintritt in den Ruhestand auf mich wartete. Doch wie ich hier saß, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, woraus dieses Leben bestehen sollte.“ Seine allerletzte Patientin, Agathe, dreht den Spieß um. Still und heimlich schleicht sie sich in seinen Terminkalender und der Psychiater wird ihr wohl oder übel zweimal pro Woche zuhören müssen. Wer therapiert hier plötzlich wen? Ein Büchlein, in dem vieles angedeutet wird, sodass der Leser plötzlich selber zum Therapeuten wird. Immer wieder stellen wir uns die Frage: Wie erfüllt leben wir? Und worauf warten wir eigentlich?
Der erste Satz: „Wenn ich mit zweiundsiebzig in den Ruhestand ging, hatte ich noch fünf Monate zu arbeiten.“
Das Buch: Anne Cathrine Bomann | „Agathe“ | Hanser blau | Januar 2019
8. „Genau richtig - Die kurze Geschichte einer langen Nacht“ von Jostein Gaarder
Es ist die Geschichte von 24 Stunden am See, in einem „Märchenhaus“, in dem die roten Fussel eines Wollpullis überall verteilt sind – zumindest in Gedanken. Albert hat sich dorthin zurückgezogen, nachdem er die Hiobsbotschaft seines baldigen Muskelschwundes und des anstehenden Todes erhalten hat. Verwirrt und durcheinander sortiert er sich und seine Geschichte: Soll er sein Leben selbst beenden, bevor es die tödliche Krankheit tut? So wird Jostein Gaarders Erzählung plötzlich mehr als nur die Geschichte eines aufreibenden Tages und einer folgenreichen Nacht. Vielmehr geht es um Alberts Vergangenheit, seine Gegenwart, seine Zukunft und die Frage nach dem, was auf den Tod folgt. Eine eigene Wendung tritt ein, als ein mysteriöser Mann am Ufer auftaucht, der sehr viel über ihn zu wissen scheint. Wie kann das sein?
Der erste Satz: „LIEBE ALLE, vorhin war ich bei Marianne, und mir ist klar, dass von nun an alles verändert ist.“
Das Buch: Jostein Gaarder | „Genau richtig - Die kurze Geschichte einer langen Nacht“ | Hanser Verlag | Juli 2019
9. „Prendiluna“ von Stefano Benni
Der Wagenbach Verlag ist bekannt für seine wilden Seiten. 2019 hat er die deutschsprachigen Leser nun mit Stefano Bennis „Prendiluna“ beglückt. Achtung, haltet beim Blättern in diesem Buch Eure Lesebrille fest, während dieser Erzählung könnte sie etwas unruhig und zappelig werden! Eine Dame mit märchenhaft klingendem Namen steht im Mittelpunkt: „Als Kind hüpfte sie in die Höhe, als sie zum ersten Mal einen Vollmond sah und wollte ihn greifen und zu sich herunterziehen.“ Seitdem heißt sie Prendiluna. Prendiluna ist inzwischen eine alte Frau und lebt mit ihren zehn Katzen am Waldrand. Da steht plötzlich ein gespenstischer weißer Kater vor der Tür und beauftragt sie, die Welt zu retten. Binnen acht Tagen soll Prendiluna zehn gute, würdige Menschen finden und jedem von ihnen eine ihrer Katzen zu schenken. Also heißt es Augen auf bei der Kandidaten-Suche! Was passiert wohl, wenn’s nicht klappt? Auf alle Fälle wird es zunächst einmal poetisch, ironisch und – Wagenbach verpflichtet – wahrlich wild. In Italien wurden Stefano Bennis Romane, Erzählungen und Gedichte mehr als 2,5 Millionen Exemplare verkauft.
Der erste Satz: „Die Alte schaute den Mond an, und er sie.“
Das Buch: Stefano Benni | „Prendiluna“ | Wagenbach Verlag | August 2019
10. „Was wichtig ist. Vom Nutzen des Scheiterns und der Kraft der Fantasie“ von Joanne K. Rowling
Es ist kein Märchen, auch keine philosophische Erzählung, sondern eine Rede. Sie kam nicht 2019 heraus, sondern wurde bereits vor zwei Jahren veröffentlicht. „Was wichtig ist“ will trotzdem hier Platz nehmen. Wieso? Weil diese Rede ein Appell ist an die Kraft, die in jeder fantastischen und zauberhaften Geschichte liegt – die Fantasie. Joanne K. Rowling, die jene Worte 2008 an die Absoventen der Elite-Uni Harvard richtete, beharrt auf eines: „Wir brauchen keine Magie, um unsere Welt zu verwandeln; wir tragen alle Kraft, die wir brauchen, bereits in uns: Wir haben die Kraft, uns Besseres vorzustellen.“ Von der alleinerziehenden Sozialhilfeempfängerin mit einer magischen Idee, für die sich anfangs niemand interessierte, wurde Rowling zur Harry-Potter-Erfolgsautorin, die Grenzen sprengte und heute ein magisches Imperium führt. Was war ihre Zauberformel, um durchzuhalten und sich treu zu bleiben? Das könnt ihr in diesem schmalen Band nachlesen, das uns in feiner Optik, verziert mit Handlettering-Elementen, erwartet. Was ist wichtig? Eine schöne Frage, die uns nun, während des Wimpernschlages, der uns von 2020 noch trennt, vielleicht wieder etwas mehr beschäftigt als sonst.
Der erste Satz: „Präsidentin Faust, Mitglieder der Harvard Corporation und des Board of Oversees, Mitglieder der Fakultät, stolze Eltern – und vor allem – Absolventen. Zunächst möchte ich vielen Dank sagen.“
Das Buch: Joanne K. Rowling | „Was wichtig ist. Vom Nutzen des Scheiterns und der Kraft der Fantasie“ | Carlsen Verlag | November 2017
11. „the sun and her flowers“ von Rupi Kaur
Zum Abschluss vielleicht der ungewöhnlichste Lektüre-Tipp: Könnten wir nicht alle mal wieder eine Prise Poesie vertragen und wagen? Im Dezember, wenn das Licht den dunklen Stunden weicht, ist die beste Zeit, die von Dichtern verzauberten Zeilen zurate zu ziehen. Das Wortgeknister kann Wunder bewirken. Und so schließen wir unsere Märchenstunde mit Rupi Kaurs warmen Worten:
This is the recipe of life said my mother as she held me in her arms as i wept think of those flowers you plant in the garden each year they will teach you that people too must wilt fall root rise in order to blossom.Rupi Kaur
Der erste Satz: „bees came for honey“
Das Buch: Original: Rupi Kaur | „The Sun and her Flowers“ | Simon & Schuster | Oktober 2017 // Deutsche Übersetzung: Rupi Kaur | „Die Blüten der Sonne: Poetry (Deutsch)“ | Fischer Sauerländer | September 2018