Heimat zwischen Millionen: Warum die Enge der Stadt meine Freiheit ist
Anlässlich der Europawahl 2019 haben auch wir uns in der Redaktion Gedanken zum Thema "Heimat" gemacht. Dass Wählen gehen wahnsinnig wichtig ist und es Unmengen an Informationsmaterial zur Wahl gibt, wisst ihr schlauen Leser*innen natürlich schon. Wir wollen mit dieser Textreihe auf einen sehr persönlichen Punkt eingehen, der uns alle beschäftigt und bei jedem anders definiert ist. Wir möchten in Zeiten von zunehmendem Nationalismus, der auch immer häufiger in öffentlichen Diskussionen stattfindet, wissen: Was bedeutet Heimat und wie definieren wir sie für uns?
Mit 14 Jahren verkündeten mir meine Eltern, ich saß gerade mit einer Naschi-Tüte auf dem Tresen unserer Reihenhaus-Küche, dass wir umziehen würden. Wohin? In eine Kleinstadt mit knapp 70.000 Einwohnern, mitten im Münsterland, zwischen Wiesen, umgeben von Dörfern. Bis dahin hatte ich mein Leben an genau einem Ort verbracht: der Vorstadt. Mit U-Bahn-Verbindung nach Hamburg.
Ich war zuerst aufgeregt und fand den Umzug spannend: Wollte mich neu erfinden, neue Hobbies (wie E-Gitarre spielen) starten, ja vielleicht sogar meinen ersten festen Freund finden. Als ich meine Kisten packte, lagen ganz oben meine Schultasche mit Stadtkartendruck von Hamburg und eine große FC St. Pauli Flagge, die ich als erstes auf unserem neuen Balkon hisste.
Aufgeregt startete ich in mein neues Leben – und war schon nach wenigen Wochen vollkommen desillusioniert. Noch nie kam ich mir so eingeengt und wenig frei vor, wie in der kleinen Stadt mit dem vielen Platz und den grünen Wiesen. Noch nie hatte ich mich irgendwo so fehl gefühlt, wie zwischen den für mich so engstirnigen Menschen dieser Kleinstadt. Auch meinen Eltern erging es ähnlich und so war es wohl mein großes Glück, dass wir nach nicht einmal einem halben Jahr die gerade ausgepackten Kisten wieder zuklebten und zurückzogen. In die enge Vorstadt, mit dem kleinen Garten und den vielen Nachbarn.
Noch nie kam ich mir so eingeengt und wenig frei vor, wie in der kleinen Stadt mit dem vielen Platz und den grünen Wiesen.
Mich hat es im Laufe meines Erwachsenwerdens an die verschiedensten Orte geführt – mein Klingelschild fand sich an Türen in Bremen, in Charleston und schließlich in Hamburg. Meine Reisen führten mich mehrfach nach New York, dann nach L.A., San Francisco und Miami. Ich habe die Schwüle Singapurs kennengelernt, bin durch Barcelona, London, Paris und viele weitere Weltstädte gelaufen. Und in jeder neuen Stadt denke ich mir: „Ach hier, hier könntest du leben.“
Verschlägt es mich stattdessen in Kleinstädte, gar Dörfer – dann habe ich nach wenigen Tagen oder Wochen bereits ein enges Gefühl in der Brust. Die Weite der Landschaft, der Blick bis zum Horizont, nichts fühlt sich für mich weniger nach Heimat an.
Natürlich finde ich die Berge, das Meer, dichte Wälder und Dschungel beeindruckend, schön und wunderbar. Ich könnte dort nur nie mein Zuhause finden. Denn ich weiß: ich brauche den muffigen Geruch der U-Bahn, das leise Hintergrundrauschen der Straßen und viele Menschen um mich herum, dann fühle ich mich Zuhause.
Zuhause, ja – aber Heimat finden?
Zuhause, das könnte wohl jede Großstadt werden. Meine Heimat ist Hamburg. Warum? Natürlich ist es der Anblick des Hafens oder der Caipi auf dem Bordstein vor dem Aurel – aber ich bekomme auch ein warmes Gefühl beim Blick auf die Skyline Manhattans oder beim Tarte au Citron essen in Paris.
Hamburg ist Heimat, weil ich vor den Toren aufgewachsen bin, mir die Gerüche und Geräusche vertraut sind. Hier lebt meine Familie, der größte Teil meiner Freund*innen und hier habe ich mit meinem Freund die erste eigene Wohnung bezogen. Doch was Hamburg noch mehr zur Heimat macht, ist das Gefühl, hier reinzupassen, dazuzugehören. Die Werte, die mir wichtig sind, fühle ich von der Stadt reflektiert. Hamburg ist bunt, offen und inspirierend. In Hamburg kannst du im Jogger ins Restaurant und im Cocktailkleid zum Kiosk – ohne schräge Blicke. Schwitzend auf Konzerten, im Menschengedränge am Elbstrand, Parolen rufend auf Demos, ja selbst inmitten des verhassten Gedränge im Bus – nie fühle ich mich freier, unabhängiger und weniger eingeengt, als in diesen Momenten.
Heimat ist nicht der Ort, sondern die Gemeinschaft der Gefühle.Bodeninschrift in der Hamburger Galerie der Gegenwart
Als ich das letzte Mal innerhalb Hamburgs umgezogen bin, habe ich ein Tagebuch gefunden, das ich mit 12 Jahren geführt habe. Damals habe ich eine Liste aufgeschrieben mit all den Dingen, die ich vom Leben erwarte. Und zwischen einem Kuss und einem 56er Jaguar wie in Eiskalte Engel steht in krakeliger Schrift – ein blaues Haus in Nottinghill. Kein Pferd, kein Apfelbaum im Garten – eine Heimat in einer Stadt. London ist es nicht geworden, aber ich würde sagen, mein 12-jähriges Ich nickt zustimmend wenn ich sage: Hier is meine Heimat. Zwischen Millionen, auf 69 Quadratmetern.