Die Schmuckstraße: das vergessene Chinatown Hamburgs
Vor 75 Jahren wurde St. Paulis Chinesenviertel geräumt. Kein Wunder, dass von dessen Existenz kaum jemand weiß – das Gedenken beschränkt sich auf eine winzige Info-Tafel und das legendäre Hongkong-Hotel am Hamburger Berg.
Es ist ja nicht so, dass einen die Geschichte in Hamburg überall dauernd anspringt. Kaum eine Stadt verachtet ihre Vergangenheit schließlich innbrünstiger, kaum eine betoniert ihre Erinnerung bedenkenloser zu als diese. Aber nirgendwo hat sie ihr Gedächtnis tiefer begraben als im alten Chinesenviertel, und der beste Beleg dafür dürfte die Tatsache sein, dass viele jetzt vermutlich denken: Hamburg hatte ein Chinesenviertel? Es hatte, wenn auch verglichen mit New York, Amsterdam und L.A. ein ziemlich kleines.
Wer heutzutage aus der Großen Freiheit rechts ums Eck torkelt, steht bald mittendrin, ist ein paar Schritte weiter jedoch schon längst wieder draußen. In der winzigen Schmuckstraße zwischen Budnikowski und katholischer Kirche, wo das dänische Altona einst ans preußische St. Pauli grenzte, hatten sich vor rund 150 Jahren erstmals Chinesen angesiedelt. Und um Enge, Armut, Unterdrückung ihrer Heimat im liberalen Hafenquartier zu entkommen, setzten sie beruflich einfach fort, wofür man sie in der strikt männlichen Seefahrt damals dringend brauchte: Kochen, Waschen, Putzen – traditionell Tätigkeiten jenes Geschlechts, das an Bord der Sage nach Unglück brachte.
Für deutsche Verhältnisse herrschte ein fernöstliches Flair
So war das damals, so setzte es sich fort, weshalb die beiden Häuserblöcke rechts und links der Schmuckstraße zügig Wäschereien beherbergte, Garküchen und Lokale, ein Zigarrengeschäft, sogar Opiumhöhlen. Für ein brodelndes Chinatown amerikanischer Prägung war das hanseatische zwar zu unscheinbar; für deutsche Verhältnisse aber herrschte hier jahrzehntelang beinah fernöstliches Flair. Bis 1944. Dann nämlich verdichtete sich die latente Verachtung der Nachbarschaft im nationalsozialistischen Vernichtungswahn und bereitete der asiatischen Enklave ein brutales Ende.
Bei einer großangelegten Razzia im Frühsommer wurden 130 Männer verhaftet, interniert, getötet. Die Vorwürfe reichten von Feindbegünstigung über Prostitution bis Menschenschmuggel und Schwarzhandel. Angeblich hatten sie das gesamte Areal untertunnelt. Verschwörungstheorien faschistischer Art eben. Offiziell fielen ihr 17 Personen zum Opfer, wie viele es genau waren, bleibt bis heute ungeklärt. Was jedoch Gewissheit ist: nach der „Chinesenaktion“ war die Subkultur aus dem Schmelztiegel Hamburg beseitigt. Und wie nachhaltig das geschah, lässt sich noch immer schmerzhaft beobachten.
Bis auf eine Gedenktafel, mit der das St. Pauli Archiv vor sieben Jahren ein verwittertes Modell von 1996 am winzigen Fußballkäfig ersetzt hat, erinnert nichts an die Zeit vor der Räumung. Im Gegenteil. Während der nördliche Häuserblock von Bomben schwer getroffen dem Erdboden gleichgemacht und durch einen Grünstreifen ersetzt wurde, der bis heute als größtes Freiluftklo der Umgebung dient, ist die erhaltene Seite total heruntergekommen. Neben zwei Neubaukatastrophen der Achtziger rotten zwei Altbauten vor sich hin. Die Rockerkneipe Steppenwolf ist ebenso geflüchtet wie Donatellas Bar. Wer sie fotografiert, wird aus undichten Fenstern mit Eiswürfeln beworfen. Nichts in dieser Straße ist so einladend wie in der Ära chinesischer Bewirtung.
Das unverwüstliche Hongkong-Hotel
Von der zeugt im ganzen Viertel überhaupt nur noch ein Laden: Das unverwüstliche Hongkong-Hotel am benachbarten Hamburger Berg, gegründet vom eingewanderten Gastwirt Chong Tin Lam, dessen Tochter Marieta wie ihr Vater und seine deutsche Frau seinerzeit Opfer der Chinesenaktion geworden war. Entschädigt wurden sie nie. Auch deshalb mag die 77-Jährige wohl nicht mehr über damals reden. Aber bis heute steht sie fast jede Nacht am Tresen ihres liebevoll verwahrlosten Lokals, in dem ein Zimmer 25 Euro kostet und das Bier kaum mehr als den Einkaufspreis. Und so beschränkt sich das öffentliche Erinnern ans Hamburger Chinesenviertel wie so oft auf ein wenig Jubiläumsroutine zum Gedenktag des Kahlschlags vor 75 Jahren.
Voriges Jahr zeigte der NDR seinen Spielfilm „Tian“, der aus dem politisch brisanten Stoff einen effekthascherischen Horrorstreifen gebastelt hat, Anfang Juni dann kondolierte ein Teil der soziokulturellen Prominenz pflichtschuldig und behelligt die Hausbesitzer darüber hinaus nicht weiter dabei, ihr Erbe verfallen zu lassen. Ansonsten bleibt die Schmuckstraße gleich nach dem Schlagermove Hamburgs größte Toilette – zumindest, bis findige Investoren auch den letzten Rest Andenken an St. Chinatown mit Hamburger Schuhkartonarchitektur überbauen.