Coming-of-Age Romane 2019: 11 Bücher, um (nicht) erwachsen zu werden

Es gibt Dinge, die lassen sich irgendwie nicht vermeiden. Erwachsenwerden zum Beispiel. Irgendwo zwischen nassem Zungenkuss, verwirrter Liebe, sich festigenden Interessen für Politik und Popkultur und einer wilden Ladung Kopfchaos werden ziemlich unterhaltsame Geschichten geschrieben. Deshalb haben wir in unseren Lieblingsbuchhandlungen nachgefragt, welche Coming-of-Age-Bücher dieses Jahr auf den Regalen sprießen. So erwachsen sind wir nämlich gar nicht. Ihr etwa?

© Unsplash | Carlsen Verlag

1. Marisha Pessl: „Niemalswelt“

Fünf ehemalige Schulfreunde finden sich nach einem Unfall in einer Welt zwischen Leben und Tod wieder. Erster Clou: Einer von ihnen darf weiterleben. Zweiter Clou: Die fünf Freunde müssen auswählen, wer der Auserwählte ist. Bis dahin wird sich ihr letzter Tag immer aufs Neue wiederholen. Hallo Murmeltier-Effekt! Doch es steckt noch mehr hinter der Geschichte. Der mysteriöse Tod eines gemeinsamen sechsten Freundes, Jim, im Jahr zuvor, scheint der Schlüssel zu sein. Die Fünf beginnen ihre Detektivarbeit in einer Welt, die ihren eigenen Gesetzen folgt und immer instabiler zu werden scheint. Wer darf leben? Mit „Niemalswelt“ hat Marisha Pessl einen packenden Coming-of-Age-Mystery-Pageturner geschrieben.

Der erste Satz: „Ich hatte seit über einem Jahr nicht mehr mit Whitley Landsing – oder sonst irgendeinem von ihnen – gesprochen.“

Das Buch: Marisha Pessl | „Niemalswelt“ | Carlsen Verlag | März 2019

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2. Judith Visser: „Mein Leben als Sonntagskind“

Eine Fahrstunde. Jasmijn hat davon bereits überdurchschnittlich viele hinter sich gebracht, reagiert aber immer noch wie eine Anfängerin. Überfordert von den vielen auf sie einströmenden Eindrücken, kann sie die Aufgaben einer Fahrerin einfach nicht bewältigen. Tatsächlich verarbeitet die junge Frau Informationen vollkommen anders als ihre Mitmenschen. Sie nimmt alle äußeren Reize einzeln wahr, nicht als Gesamtbild: „Meine Ohren sogen sich voll mit allen Geräuschen, wie eine Muschel, die die Sinfonie des Meeres einfängt.“ Deshalb redet Jasmijn nicht – nur mit ihrer Hündin Senta und Elvis Presley, mit dessen Postern sie ihr Zimmer tapeziert hat. Mit einer blühenden Fantasie beschenkt, denkt sie sich auch dauernd Geschichten aus, zum Beispiel von der „normalen Jasmijn“, die im Gegensatz zu der wirklichen Jasmijn immer weiß, wie sie sich richtig zu verhalten hat. Der Bestseller aus den Niederlanden ist ein fantastischer Roman über das Erwachsenwerden mit Autismus.

Der erste Satz: „Ein Fußgänger.“

Das Buch: Judith Visser | „Mein Leben als Sonntagskind“ | HarperCollins | Mai 2019

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3. Angie Thomas: „On the come up”

Autorin Angie Thomas  hat mit ihrem ersten Roman „The Hate U Give“ bereits ein eindrucksvolles Debüt gegeben. 2019 legt sie mit „On the come up“ nach. Darum geht’s im Buch: Bris Daddy hat den Durchbruch als Rapper fast geschafft, doch dann wird er erschossen. Also tritt die Sechzehnjährige selbst in die übergroßen Fußstapfen ihres Vaters. Sie lässt die ganze Frustration über ihre Lebenssituation in ihren ersten Song fließen  – und dieser wird ein viraler Hit. Doch aus den falschen Gründen; Bri wird plötzlich als gewaltanstiftende Ghetto-Braut gesehen. Als noch ihre ehemals drogenabhängige Mutter den Job verliert, nimmt das Schicksal der jungen Frau seinen Lauf. Das Buch wimmelt vor feinen Skizzen über alltäglichen Rassismus, über Freundschaft, Vertrauen und Verantwortungsbereitschaft. Dass die Geschichte dabei nicht gefühlsduselig wirkt, liegt auch an der Härte der Umstände, in denen sich die junge Heldin behaupten muss. Ebenso am Ton, mit dem diese von sich erzählt. Bri hat ein großes Herz und eine noch größere Klappe. Oder umgekehrt?

Der erste Satz: „Vielleicht muss ich heute Abend noch jemand killen.“

Das Buch: Angie Thomas | „On the come up” | cbj Verlag | Februar 2019

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4. Ulrich Woelk: „Der Sommer meiner Mutter”

Köln, Sommer 1969. Tobias ist ein begeisterter Weltraum-Fan. Gebannt verfolgt der Elfjährige die US-Apollo-Mission und die Mondlandung. Doch nicht nur die US-Astronauten verlassen in diesem Sommer die Erdumlaufbahn. Auch Tobias wird durch dramatische Ereignisse aus seiner Kindheit geschleudert. Ob Vietnamkrieg, Popmusik oder die erste Jeans – neben der Mondlandung prasselt eine Menge auf den Jungen ein. Vor allem die Geschichte um seine Mutter. Es geht um erste Erotik-Versuche und historisches Weltraum-Geschehen, um Trennungen, um’s Anderssein, um Schuldgefühle und um den Tod. Nüchtern beschreibt Ulrich Woelk, der auch promovierter Physiker ist, in „Der Sommer meiner Mutter“, wie eine Kindheit endet. Am Ende steht die Erkenntnis, dass eine Mondlandung leichter sein muss als das Leben. Apollo 11 ließ sich nämlich steuern.

Der erste Satz:  „Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten Mondlandung, nahm meine Mutter sich das Leben.“ 

Das Buch: Ulrich Woelk | „Der Sommer meiner Mutter”| C.H. Beck Verlag | Januar 2019

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5. Mirjam Pressler: „Dunkles Gold“

Zwei Mädchen, Laura und Rachel. Beide sind 15 Jahre alt. Beide haben das Leben vor sich. Beide beginnen, sich für Jungs zu interessieren. Die eine ist Jüdin, die andere verliebt sich in einen Juden. Sie leben in der gleichen Stadt, in Erfurt. Begegnen werden sie sich aber nie, denn zwischen ihren Lebensgeschichten liegen fast 700 Jahre. Rachel lebt im Mittelalter, Laura in der Gegenwart. Wir lernen ihren Alltag kennen, ihre Wünsche und Ängste. Abwechselnd auf zwei Ebenen erzählt Mirjam Pressler die Geschichte der beiden Mädchen und verknüpft sie mit dem berühmten Erfurter Schatz. Kinder in Not und die Shoa, das waren die großen Themen von Autorin Mirjam Pressler. Unermüdlich hat sie geschrieben, 30 Kinder- und Jugendromane veröffentlicht und etliche Preise dafür bekommen. Mitte Januar ist die Schriftstellerin nach langer Krankheit verstorben. Mit „Dunkles Gold“ dürfen Pressler-Fans sich noch einmal auf Zeitreise begeben.

Der erste Satz: „Ich ging in mein Zimmer, kam mit einer Handvoll Blätter zurück und legte das erste vor ihn auf den Tisch.“

Das Buch: Mirjam Pressler | „Dunkles Gold“ | BELTZ Verlag | März 2019

© Unsplash | Heyne Verlag

6. Dana Czapnik: „Ich werde fliegen“

Manhattan in den 90ern. Wenn sie einen Basketball in den Händen hält, wird aus „Lucy Adler, dem unsichtbaren Mädchen, Lucy Adler, Kriegsgöttin von Mannahatta, der Insel der vielen Hügel“. Die Siebzehnjährige macht die meisten Punkte in der ganzen Liga. Viel soziale Anerkennung bringt ihr das in der Schule allerdings nicht ein. 1993 ist der Feminismus zwar ein gesellschaftliches Thema, aber Mädchen sollen dennoch vor allem hübsch sein. Nur Percy, Lucys bester Freund seit Kindertagen, ist stolz auf sie. Wie verliebt sie in Percy ist, bemerkt er allerdings nicht. Aber Lucy ist keine, die über eine unerwiderte Liebe oder gelegentliche Schul-Hänseleien in Wehklagen verfällt. Dazu hat sie viel zu viele Interessen jenseits der „Liebe“. Zum Beispiel Physik, Kunst, die französischen Existenzialisten und natürlich Basketball. Dana Czapnik erzählt in „Ich werde fliegen“ keine typische „Boy-meets-girl-Story“ und gießt auch keinen Zuckerguss über alle Protagonisten. Übrigens ist hier eine Sport-Kennerin am Werk. Die Autorin war vor ihrem Debütroman hauptsächlich als Sportjournalistin tätig.

Der erste Satz: „Der Ball ist ein Gesicht.“

Das Buch: Dana Czapnik | „Ich werde fliegen“ | Heyne Verlag | März 2019

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7. Demian Lienhardt: "Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat"

Die rebellische Alba führt uns ein in eine Jugendbewegung, die mit Pflastersteinen und Parolen („Macht aus dem Staat Gurkensalat“) um sich wirft. Sie erzählt von Polizeipatrouillen und zitternden Zürcher Fensterscheiben in den 80er und 90er Jahren. Sie berichtet von einer aus dem Ruder laufende Heroinszene, die sich in der reichsten Stadt der Welt einnistet. Alba hat übrigens Höhenangst. Deshalb kann sie nicht wie die Anderen von der Brücke springen. Drei Mitschüler haben es in diesem Jahr schon getan. Aber Alba traut sich nicht und deshalb liegt sie jetzt im Spital, von wo sie uns direkt in ihr verkorkstes Leben einlädt. Da ist die unterkühlte Beziehung zur Mutter, der Tod des Stiefvaters und die Sache mit ihrer Schwester. Gerade hat sie sich in Jack verliebt, der eigentlich René heißt. Er ist so cool, dass er die Flusen in seinem Bauchnabel sammelt und aufbewahrt. Für seine eigentlich traurige Coming-of-Age-Geschichte hat der promovierte Archäologe Demian Lienhard eine spleenige, schwarz-humorvolle Sprache gefunden. Lienhard schreibt so, wie Alba redet. Schnoddrig und gerade heraus.

Der erste Satz: „Ich habe Jack an jenem Tag kennengelernt, als hinter unserem Haus ein Achtundzwanzigjähriger vom Himmel gefallen ist.“

Das Buch: Demian Lienhardt | „Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat“ | Frankfurter Verlagsanstalt | Mai 2019

© Unsplash | Haymon Verlag

8. Simone Somekh: „Weitwinkel“

Ezra besucht eine konservative jüdische High School in Boston. Seine Eltern haben sich in ihren Zwanzigern entschlossen, Mitglieder einer ultraorthodoxen Gemeinde zu werden. Leider besteht Ezras Lebenstraum nicht darin, die Thora zu studieren, sondern Fotograf in New York zu werden. Dafür müsste er aber aus seiner Gemeinde ausbrechen. Mitten in den Kämpfen mit seinen Eltern nehmen diese ein Kind einer benachbarten Familie auf, Carmi. Die beiden sehr unterschiedlichen Jugendlichen freunden sich an. Schließlich schafft Ezra den Absprung nach New York, muss dafür jedoch alle Bande zu seiner Familie kappen. Mit der Zeit wird ihm klar: So einfach kann er sich von seiner jüdischen Identität nicht lösen.  Was bedeutet es, anders zu sein als die Gemeinschaft, in der man aufwächst? Was heißt es, Brücken hinter sich abzubrechen? Berührend zeichnet der junge Turiner Autor Simone Somekh, wie ein junger Mann in die Freiheit aufbricht. 

Der erste Satz: „Es krachte und ich saß allein im Auto, blieb aber unverletzt, weil es in dieser Welt nicht die Unfälle sind, die Wunden zufügen, sondern die Menschen mit ihren Worten und dummen Ideen.“

Das Buch: Simone Somekh | „Weitwinkel“ | Haymon Verlag | März 2019

© Unsplash | Ullstein Verlag

9. Zinzi Clemmons: „Was verloren geht“

Als Thandis Mutter an Brustkrebs erkrankt und stirbt, schlittert die junge Frau geradewegs in eine Identitätskrise. Als Tochter eines dunkelhäutigen US-Amerikaners und einer südafrikanischen Frau hat sie sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen müssen, keine „richtige” Schwarze zu sein. Was soll das überhaupt sein: nicht schwarz, nicht weiß? Wie lebt es sich in den Zwischenräumen, in denen man Dinge nicht so einfach zuordnen kann? Wie definiert man sich, zwischen zwei Kontinenten, zwischen zwei Identitäten? Wo will man überhaupt dazugehören? Für Thandi beginnt eine schmerzliche Reise zu ihren Wurzeln und eine erhellende Suche nach Halt, Liebe und einer eigenen Familie. Clever verknüpft die afroamerikanische Autorin Zinzi Clemmons dabei Blogbeiträge, Zeitungsausschnitte und historische Fotografien mit ihrer eigenen Geschichte. 

Der erste Satz: „Die Einrichtung im Schlafzimmer meiner Eltern ist noch immer die alte.“

Das Buch: Zinzi Clemmons | „Was verloren geht“ | Ullstein Verlag | März 2019

© Unsplash | Verbrecher Verlag

10. Lisa Kränzler: „Coming of Carlo”

Kein Coming of Age, sondern ein „Coming of Carlo“ ist das Thema in Lisa Kränzlers neuestem Roman. Die Autorin erzählt darin von Carlo,  17 Jahre jung. Kein leichtes Alter, weder für seine Umgebung, noch für ihn. Dann gibt es auch noch Probleme: Carlo findet heraus, dass sein Vater nicht sein Vater ist. Das kränkt ihn, daher hält er es für gerechtfertigt, die beleidigte Leberwurst zu spielen und sich absolut rücksichtslos zu verhalten. Zudem plagt ihn eine Fußballverletzung, dennoch treibt er fast manisch Sport. Schließlich lernt Karlo in der Schule Gwen kennen, eine starke, faszinierende junge Frau, in die er sich verliebt. Doch hat sie nicht etwas mit einem Anderen? Wie geht die Geschichte weiter? In zwei Worten: Alles eskaliert.  Mit „Coming of Karlo“ hat Lisa Kränzler einen Roman geschrieben, der die Fragen nach Männlichkeit in den Buch-Mixer schmeißt und kräftig durchschüttelt und -rüttelt.

Der erste Satz: „Ich laufe nicht, ich fliege – die Vorfreude auf den Torjubel schon unterm Brustbein.“

Das Buch: Lisa Kränzler | „Coming of Carlo“ | Verbrecher Verlag | März 2019

© Unsplash | DuMont Buchverlag

11. Ewald Arenz: „Alte Sorten“

Sally steht kurz vor dem Abitur und wurde erneut von ihren Eltern in eine Klinik gesteckt, weil man bei ihr Magersucht, Depressionen und Suizidgedanken vermutet. Dabei fühlt sie sich in erster Linie nur unverstanden und kann mit der Welt ihrer perfekten Eltern nichts anfangen. Sie flieht raus aufs Land. In einem Weinberg trifft sie auf die 30 Jahre ältere Liss. Diese lebt allein auf einem großen Hof, den sie ohne fremde Hilfe bewirtschaftet. Sie bietet der verstörten Sally, ohne groß zu fragen, ein Dach über dem Kopf an. Nach beidseitigem Schweigen lernen sich die zwei Frauen besser kennen, fahren zusammen hinaus, ernten Gemüse, vor allem aber auch Birnen. Die Arbeit mit und in der Natur löst allmählich die Verkrustungen ihrer beiden Seelen und eine Freundschaft wächst leise heran. Beim Lesen gleitet man abwechselnd in die Gedanken der zwei Frauen. Die wütende Sally, die verzweifelt nach ihrem Platz in der Welt sucht.  Die rücksichtvolle, introvertierte Lizz, die in Sally sich selbst als Mädchen wieder entdeckt. Ein Buch der flüsternden Töne, bestimmt von den Farben, Klängen, Gerüchen und Geschmäckern der Natur. Und immer wieder die Frage: Wann entsteht eigentlich wirkliche Nähe zwischen Menschen?

Der erste Satz: „Auf der Kuppe der schmalen Straße durch die Felder und Weinberge flimmerte die Luft über den Asphalt.“

Das Buch: Ewald Arenz | „Alte Sorten“ | DuMont Buchverlag | März 2019

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