Turbojugend gegen Turbokapitalismus

© Jan Freitag

Die Schweden sind schon da, einer zumindest, aus Stockholm, Mats heißt er, Nachname Melin oder so ähnlich, wenn man sein zahnloses Lallen nicht total missversteht. Auch ein paar Kuttenträger aus Holland glühen im Kreise deutscher Schicksalsgenossen schon mal tüchtig vor. Und steht da vorm Schaufenster mit dem Schiffswappen nicht „Turbojugend Glasgow“ auf der Jeansjacke? Könnte gut sein. Internationale Städtenamen sind schließlich schon seit Dienstag ein kleiner Vorgeschmack jener globalen Partysolidarität, die zwei Tage später exakt hier in einer kleinen Völkerwanderung des Rock’n’Roll kulminieren wird. Ab heute nämlich findet wie jedes Jahr um diese Zeit seit 2004 in Hamburg einer der seltsamsten Aufläufe des Festivalsommers statt.

Das jährliche Turbo-Klassentreffen

Dann nämlich treffen sich mindestens 1500 Fans der norwegischen Punkband Turbonegro von fast jedem Kontinent zu den „Welt-Turbojugend-Tagen“ auf St. Pauli, genauer: In und vor Fred’s Schlemmereck. Das war nie anders. Das atmet Tradition. Das macht Hamburg für drei Tage wirklich mal kurz zum Tor zur Welt. Das hätte sich diesmal jedoch fast ein anderes Epizentrum suchen müssen als die legendäre Absturzkneipe in Reeperbahnnähe. Was wiederum wie so oft mit einem Lebensraum zu tun, der zusehends an sich selbst verzweifelt. Denn Anfang des Jahres war Fred’s Schlemmereck plötzlich dicht. Wochenlang. Zum ersten Mal seit 30 Jahren. Eine Kiezkatastrophe. Schon wieder. Nicht nur für Weltturbojugendtagediebe.

Kiosk statt Kneipe?

Nachdem der langjährige Pächter Herbert Stender am Dienstag vor einem Jahr für viele unerwartet verstorben ist, stand auch sein herrlich verranztes Souterrain mit der gutbürgerlichen Küche und dem billigen Bier auf der Kippe. Weil Herberts Witwe die Kaschemme nicht weiterführen konnte, übernahm sie der benachbarte Imbiss-Betreiber und plante offenbar, was heutzutage halt so geplant wird, wenn alte Läden durch neue ersetzt werden: Eine Shisha-Bar. Im besten Fall. Im schlimmsten: den nächsten Kiosk. Profit statt Seele, Wodka Redbull 3€, die turbokapitalistische Version der Absturzkneipe. „Es ist ja gar nicht so, dass jede Shisha-Bar scheiße ist“, meint der langjährige Stammgast Jonas, wobei schon das „Turbojugend Waterkant“ auf der Jacke die Einschränkung ankündigt: „Aber für den Kiez und uns wäre das furchtbar.“

So denken viele in der näheren Umgebung. So dachten gewiss auch die meisten, als „Fred’s Schlemmereck“ nach „ziemlich viel Hickhack“, wie es der hauptamtliche Spediteur ausdrückt, vor dem endgültigen Aus in jener Form stand, wie es Fans aus aller Welt so lieben: sorgsam verlottert, liebevoll betreut, leidenschaftlich besucht. Selbst Jonas war pessimistisch. Dann aber tat er, was dem neonhellen Rotlichtviertel früherer Tage ein leuchtendes Beispiel sein könnte: mit vier Gleichgesinnten übernahm er vor sechs Wochen sein zweites Zuhause, versetzte es mit den alten Plakaten, Stickern, Dekorationen in eine Art Urzustand und bietet den WTJT 2018 nun doch jene Heimat, die ihnen verloren zu gehen schien.

© Jan Freitag

Ein irrer Plan – der aufgeht

Fünf unternehmerische Laien inklusive Herberts früherem Koch bauen auf dem Schutt der Kommerzialisierung, was längst endgültig planiert schien. Dafür, erzählt Jonas beim Bier im Abendrot, habe es zwar kein Startkapital gegeben, aber einen „richtigen Businessplan“ mit angepeiltem „Break-Even“, also der vagen, aber nicht unberechtigten Hoffnung, die „Schank- und Speisewirtschaft“, wie das berühmte orangegrüne Schild am Eingang verkündet, bringt es irgendwann vom kostenneutralen Hobby hingebungsvoller Fans zum einträglichen Nebenerwerb für fünf Teilzeitgastronomen mit einer Vision. Und das irrste: Der Besitzer spielt mit, die Pacht liegt sogar unterm Durchschnitt, erhöht wurde kaum.

Auch sonst lautet das Zukunftskonzept daher: „Alles soll so bleiben wie es ist!“ Mit kaltem Astra statt fancy Cocktails und gehobenem Fastfood statt Wasserpfeifen mit Pfirsichgeschmack. Die alten Schwarzweißfotos aus Herberts goldener Zeit, Schnappschüsse einer Epoche, als Gentrifikation noch nach englischem Landadel klang und Reeperbahn irgendwie räudig, hängen bereits wieder. Zurzeit werden sie allerdings kurzzeitig verdeckt: Vom knallbunten Wandteppich der Welt-Turbojugend-Tage voller Badges aus aller Herren und Damen Länder. Wer dieses Wochenende einen Blick ins Allerheiligste hiesiger Kiezkultur werfen möchte, der braucht dafür indes Ellenbogen. Durch einige Hundert Weltturbojugendliche von Kanada über ganz Europa bis Neuseeland vor der Tür muss man sich erstmal durchdrängeln.

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