Viel mehr als nur Partymeile: Der Stadtteil St. Pauli soll Weltkulturerbe werden
Wenn die Menschheit versucht, ihren Nachlass zu verwalten, dann setzt es zunächst mal schicke Hinweisplaketten. An zwei Dutzend Kirchen und Schlössern hängt allein hierzulande das zugkräftige UNESCO-Schild, dazu an drei Handvoll Klöstern nebst Industrieanlagen. Selbst Deutschlands Wattenmeer und Buchenwälder wurden bereits publikumswirksam zum Weltkulturerbe erklärt.
Ach ja – nicht zu vergessen Hamburgs Speicherstadt. Sieht schließlich echt prächtig aus, dieser Klinkerstein gewordene Kaufmannsstolz mit all den Türmen und Zinnen und Giebeln überm Pflaster einer blankgeputzten Sightseeingzone am Elbfleet. So ordentlich, so akkurat, so sauber stellen sich Zugereiste den Schutzbestand hanseatischer Zivilisation halt vor. Chaos, Konfusion und Dreck hingegen gelten der Marke Hamburg eher als Ärgernis. Bis jetzt.
Der Stadtteil als Weltkulturerbe – eine Schnapsidee?
Denn wenn es nach einer Stadteilinitiative aus St. Pauli geht, bewirbt sich das winzige Wohnviertel mit integriertem Red Light District womöglich bald um den immateriellen Welterbe-Titel der Vereinten Nationen. Klingt nach einer Schnapsidee, Tresenträumerei?
„War es auch“, gibt die zuständige Quartiersmanagerin Julia Staron zu und meint damit ein paar bierselige Treffen der Projektgruppe „Große Freiheit am Tag des offenen Denkmals“, bei denen der verwegene Plan voriges Jahr Gestalt annahm. Als der Alkoholdunst jedoch verzogen war, fügt Julia Staron im Namen ihrer wachsenden Zahl an Mitstreitern hinzu, „durften wir feststellen, dass das Thema echte Substanz hat“. Wie es sich im Digitalzeitalter gehört, hat es mit längst eine verblüffend wohlsortierte Homepage. Und natürlich etwas, das gut mit „Vision“ übersetzbar ist.
Wenn’s gut läuft, bekommt St. Pauli über diesen einzigartigen Selbstfindungsprozess eine Art neues kollektives Selbstbewusstsein, dass alle Aspekte unserer extrem bunten Stadtteilpersönlichkeit miteinander verbindet und viele(s) ein-, statt einige(s) ausgrenzt.Kulturerbe Sankt Pauli
Wenn die UNESCO ihr menschengemachtes Erbschaftsverzeichnis um Güter jenseits von herausragender Architektur ergänzt, dann geht es meist um volkstümliches Brauchtum von regionaler Relevanz – die friesische Teezeremonie zum Beispiel oder Spaniens Flamenco.
St. Pauli jedoch begründet seine Bewerbung mal nicht mit Folklore, Sitten, gar Trachtentanz, sondern gewissermaßen humanistisch: Durch die Vielfalt eines Viertels, das es zwar an keiner Stelle mit den handwerklichen Meisterleistungen im dinglichen UN-Kanon aufnehmen kann, aber seit gut 400 Jahren „die Balance zwischen kreativem Chaos und bürgerlicher Ordnung probt, zwischen Kunst, Kultur und Kommerz“. Ein Kraftakt, heißt es in der Selbstbeschreibung weiter, „auf den – trotz all der Reibungen, die dieses ewige Spannungsverhältnis produziert – letztlich doch irgendwie alle Seiten stolz sind“.
Ob der Kiez das konservative Komitee überzeugen kann?
Ob dieser Stolz das Komitee in Paris von der globalen Bedeutung überzeugen kann, ob er es überhaupt zur ordentlichen Bewerbung bringt, ist dabei, nun ja, unwahrscheinlich. Institutionen mit globalem Vertretungsanspruch wie diese orientieren sich eher an der Konsensfähigkeit aller, als am Distinktionsbedürfnis einzelner.
Das Auswahlverfahren ist zutiefst nostalgisch, also: konservativ. Aber um Erfolgsaussichten geht‘s hier gar nicht, es geht um Debatten, Diskurse, Streit, auch PR, vor allem aber: um Kommunikation. Und der fügt das Erbluftschloss nicht nur eine unterhaltsam kritische Klangfarbe hinzu; sie schlägt die Gegner von all dem, was hier als vermächtniswürdig promoted wird, mit den eigenen Waffen.
Es geht um viel mehr als Rotlicht und Kommerz
Die ebenso geschichtsvergessene wie gefallsüchtige Hansestadt versucht schließlich seit Jahrzehnten nahezu alles, um der Welt ringsum (oder wenigstens dem Hamburger Speckgürtel) so gut zu gefallen, dass der Zustrom an Reisebussen, Billigfliegern, Investorenlimousinen nie versiegt. Kein Wunder also, dass Kulturbehörde, Bezirksamt und Stadtmarketing nach Bekanntgabe dieser Art Graswurzelaufwertung impulsiv applaudiert haben.
Kein Wunder auch, dass solch ein Vorhaben neben Kirchen und Bürgervereinen vor Ort vom touristischen Durchlauferhitzer Olivia Jones unterstützt wird. Auf einer Stufe mit Kölns Karneval und den Pyramiden von Gizeh? Das bringt ja noch mehr Werbung, noch mehr Gäste, noch mehr Einnahmen, noch mehr Gäste, noch mehr Einnahmen, noch mehr Werbung! Was die Fans selbstreferenziellen Profits nicht verstehen: Der Initiative geht es ums genaue Gegenteil. Obwohl der immaterielle Status keinerlei Pflichten (geschweige denn den Schutz der einheimischen Bevölkerung oder Bausubstanz) mit sich bringt, so rückt er den globalen Kampf um die Ressource Fremdenverkehr doch in ein neues Licht.
Allein die Debatte ums Unmögliche kann somit ein Bewusstsein dafür schaffen, was der Staatenbund eigentlich genau schützen will, wenn sie ihr Zertifikat verleiht.Jan Freitag Twittern
Als Opfer und Täter der globalen Fremdenverkehrsströme, die ihre Ziele ebenso wie das Weltklima Richtung Untergang reißen. Als Subjekt wie Objekt von allem, was touristischer Überfluss an Ertrag und Schaden mit sich bringt. Allein die Debatte ums Unmögliche kann somit ein Bewusstsein dafür schaffen, was der Staatenbund eigentlich genau schützen will, wenn sie ihr Zertifikat verleiht. Für Julia Staron ist es daher am wertvollsten, „ins Gespräch zu kommen.“ Oder wie sie es ausdrückt: „Der Weg ist das Ziel.“ Auch wenn er nicht zur tollen Plakette mit dem zugkräftigen UNESCO-Logo führt.