Gedanken, Gitarren, Generationen - gibt es eine neue Hamburger Schule?

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“Alles was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben”, sang 1997 die Band Tocotronic und schleuderte die Thesen, Wut auf die Verhältnisse, Verachtung und Unsicherheit, die direkt aus der Seele einer jungen Hamburger Generation zu kommen schienen, der Welt entgegen.

Hamburger Schule – die Haltung scheint bei den heutigen politischen Verhältnissen angebrachter denn je. Ende der 80er entstanden, zeichnete sich das Genre vor allem durch anspruchsvolle, intellektuelle, gern linkspolitische Texte aus – und zeugte von einem völlig neuen Selbstverständnis, eigene Gedanken auch in der eigenen Sprache in Musik zu verwandeln.

 

Die Schüler der Hamburger Schule

Blumfeld, Kolossale Jugend, Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs, die Goldenen Zitronen oder auch Bernd Begemanns Band Die Antwort (letzterer wird auch gern als Gründervater der Hamburger Schule genannt) waren Hauptvertreter – so auch die Mitte der 90er Jahre erfolgreichen Bands Die Sterne oder eben Tocotronic.

 

Irgendwann wurde es etwas still um dieses Genre. Hamburg selbst schien mehr Hip-Hop-Hauptstadt sein zu wollen, später Elektrohochburg.

Doch seit kurzer Zeit scheinen sich die hanseatischen Ohren wieder umzuorientieren. Das Molotow ist cool wie nie, auf dem Dockville spielen mehr und mehr “echte” Bands mit "echten" Instrumenten, die Leute haben wieder Bock auf Rock. Vielleicht liegt es an der momentanen Weltpolitik, vielleicht einfach am turnusmäßig wechselnden Zeitgeist, aber unterschiedlichste Menschen greifen wieder unterschiedlich motiviert zu Gitarren - und jeder und seine Mutter kennen einen, der in einer Hamburger Rockband spielt.

 

Kann man da schon von einer neuen Hamburger Schule sprechen? Fragen wir die Protagonisten doch am besten selbst – von bekannt bis Untergrund.

Also stellt euch doch einfach vor, ihr sitzt in einem kleinen Club in Hamburg. Ihr wisst, er soll bald schließen. Als hätten sich alle Indie-Götter verschworen, sind nicht nur ein paar Typen neuerer Bands da - Jungs in Cordhosen, Swutscher, Die Cigaretten, Erregung öffentlicher Erregung, sondern auch echte Größen der Hamburger Musikszene: Frank Spilker/ Die Sterne und Jan Müller/Tocotronic.

Man kommt ins Gespräch. Ihr lehnt euch zurück, nehmt einen Schluck vom Astra und fühlt euch schon fast ein bisschen wie im Film Almost Famous oder im legendären New Yorker CBGB oder im Londoner 100Club - also auf die hanseatische Art.

Die erste Frage schwebt im rauchigen Raum.

Frank Spilker, die Sterne © Pressebild

Frank, Jan - fandet ihr es gut, in ein Genre wie die Hamburger Schule gesteckt worden zu sein?

Frank Spilker, Die Sterne: In der deutschsprachigen Pop-Musik gibt es ja eher zu wenig Genre als zu viel, auf der anderen Seite ist man wohl nie zufrieden mit der Schublade, die einem verpasst wird. Wäre es damals nach mir gegangen, hätten die Begriffe „Rave“ und „Eskapismus“ eine größere Bedeutung gehabt, aber mit Hamburger Schule sind wir auch ganz gut gefahren.(...)

Jan Müller, Tocotronic: Vermutlich stören Genre-Zuordnungen jeden Künstler jeglicher Couleur. Schließlich ist man bestrebt, etwas ganz Eigenes zu erschaffen. Wir sind jedoch nicht ganz unschuldig daran, in die Schublade der „Hamburger Schule“ gedrückt worden zu sein. Schließlich veröffentlichten wir den Song „Ich bin neu in der Hamburger Schule“. Es gibt jedoch Genres, denen ich ungerner zugeschrieben würde: „Volkstümliche Musik“ zum Beispiel.

Jan Müller, Tocotronic © Pressebild

Glaubt ihr, Indie erlebt grad eine Renaissance?

Erregung öffentlicher Erregung: Schwer zu sagen. Zum Glück wird jede Art von Musik auch immer von irgendwelchen Menschen gehört, mal mehr mal weniger. Aber sicherlich gab es noch nie so viele Indie-Bands wie heute.

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Seb, Swutscher: Kommt drauf an, was man unter Indie versteht. (...) Ich denke bei dem Begriff 'Indie' immer als erstes an Offbeat-Hüpfmusik, Röhrenjeans und Mädchen mit Pony. Das wird eher weniger glaub ich.

Sascha, Swutscher: Zum Glück.

© Swutscher, Pressematerial

Jan Müller: Das konnte ich bisher noch nicht beobachten. Es gibt Momentan einige tolle neue Bands und Künstlerinnen (...). Aber im Großen und Ganzen habe ich das Gefühl, dass das Indie-Genre sehr viel von seinem einstigen widerständigen Potential eingebüßt hat. 

Die Cigaretten: Hamburger Gitarrenmusik war gut und ist gut. Und egal, was man sonst so hört, man kann da extrem gutes Zeug entdecken.

Die Cigaretten © Pressebild

Und gibt es wieder mehr Indie in der Hamburger Clublandschaft?

Jungs in Cordhosen: Ja! Die Hamburger Clublandschaft sticht auf jeden Fall heraus. Es gibt hier viele tolle Clubs mit Kultur und Seele, in denen lokale Indie Bands eine Bühne bekommen.

Erregung öffentlicher Erregung: Hamburg hat eine grandiose Indie-Geschichte, nicht nur durch die Bands aus den 90ern, sondern auch durch die politische Linke und die dazugehörende Punk-Musik. Der Independent-Geist ist in Hamburg spürbar, auch über Genre-Grenzen hinweg.

Die Cigaretten: Molotow, Astra-Stube, Komet – es gibt verdammt gute Clubs in Hamburg. Wichtig ist, dass die auch besucht werden. Schon der Dalai Lama hat ja gesagt: „Entdecke mindestens alle 3 Monate eine Band, die du noch nicht kennst – oder geh was trinken und Spaß haben, egal wer spielt. Frag nicht, was das Konzert für dich tun kann. Frag, was du für das Konzert tun kannst.“

Die alte Hamburger Schule war ja durchaus politisch motiviert. Seht ihr das auch so?

Jungs in Cordhosen:

Auf jeden Fall!

Swutscher: Wer heutzutage keinerlei politische Motivation hat, der pennt.

Erregung öffentlicher Erregung: Dazu ein Tocotronic Zitat, das wir gut finden: „Sehr geehrte Damen und Herren, wie schon an anderer Stelle vermerkt, lehnen wir, die Gruppe Tocotronic, Nationalismus, Deutschtümelei und Heimatduseligkeit seit Anbeginn aller Zeiten ab. Umso erstaunter sind wir nun, dass schon zum zweiten Mal in unserer bewegten Karriere der Versuch unternommen wird, deutsche Musik zu nationalisieren und eine Quote für hiesige Produktionen im Rundfunk einzurichten. Gerechtfertigt wird dies mit zweifelhaften wirtschaftlichen Argumenten. Wohin die Reise geht ist völlig klar: Wir sind wir, auferstanden aus Ruinen und fühlen uns deutsch und sexy und haben es satt, uns im eigenen Land ständig marginalisiert zu fühlen, wir werden förmlich überschwemmt von der angloamerikanischen Kulturindustrie, es gibt doch eine coole, heimatverbundene deutsche Musikszene, der geholfen werden muss und pi, pa und po. Wir sagen ganz deutlich, wie so oft in unserem Leben: Wir sind dagegen! Und fragen: Lebt denn der alte Holzmichl noch? Mit herzlichem Gruss, Tocotronic“

© Jungs in Cordhosen, Pressematerial

Seht ihr euch als politische Band?

Swutscher: Es wäre seltsam, wenn man eine politische Meinung hat und diese nicht gelegentlich in der eigenen Musik zumindest durchblitzen lässt.

Die Cigaretten: Wir sehen uns als lobbyistische Band auf Basis der Dialektik der Aufklärung. Wer bei allem was passiert behauptet psychisch gesund bleiben zu können, ist bestimmt genau das Gegenteil. Jedenfalls: Man kann auf Konzerten tolle Sachen machen. sich nackt ausziehen, mitsingen, rumspringen, Bierbecher werfen (bitte kein Glas). Man muss da nicht unbedingt über Politik diskutieren.

Erregung öffentlicher Erregung: Alles was man denkt und tut hat eine politische Ebene, dafür muss man nicht explizit politische Texte schreiben. (...) Wir sind gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, wir sind gegen Sexismus und Diskriminierung in jeder Form. Wir sind für Freundschaft und Liebe in jeder nur erdenklichen Form. Diese Haltungen fließen hoffentlich in unsere Musik ein.

Wie steht ihr zur „alten“ Hamburger Schule? Hat sie euch beeinflusst, habt ihr Vorbilder?

Jungs in Cordhosen:

Wir versuchen, wie die alte Hamburger Schule, mit deutschen (hoffentlich) intelligenten Texten, die Zuhörer zu bewegen, in ihnen etwas auszulösen!

Erregung öffentlicher Erregung:

(...) Die Sterne und Tocotronic haben auch bei einigen von uns Eindruck hinterlassen. (...)

Seb, Swutscher: (...) Für mich ging es bei den Goldenen Zitronen los. Aber musikalisch beeinflusst sind wir von der Hamburger Schule mit Swutscher zumindest nicht direkt. Man hat aber ja trotzdem mit den alten Haudegen zutun und mag sich. Letztes Jahr haben wir bei Rick McPhail von Tocotronic im Homestudio auch ein paar Demos aufgenommen. (...)

Die Cigaretten: Was wir vor allem an der Hamburger Schule super finden ist, dass da ein paar Bands einfach ihren eigenen Vibe kreiert haben und dabei auf „das geht so nicht“ und „das macht man so nicht“ n F*** gegeben haben – von der Attitüde kann man fürs Leben lernen. Ansonsten arbeiten wir momentan mit dem Mischer (Chris v. Rautenkranz) zusammen, der u.a. für die Sterne und Blumfeld tätig war.

Frank Spilker: (...) Sänger, Texteschreiber und Gitarrist der Hamburger Schule, Schrägstrich Deutschpop, Schrägstrich Diskurs Rock Band „Die Sterne,“ die seit ca 1991 aktiv ist und im letzten Jahr ihr 25 jähriges Jubiläum gefeiert hat. (...) ein Buch und ein Hörspiel veröffentlicht. (...) Vorstand des VUT und Sprecher VUT Nord.

Jan Müller: (...), Bassist der 1993 gegründeten Rockgruppe Tocotronic. Ich bin 1971 in Hamburg geboren, wohne seit ca. 8 Jahren in Berlin und bin nebenbei noch in den Bands „Das Bierbeben“ und „Dirty Dishes“ tätig.

Swutscher: "Swutscher? Die machen Thekenpolka!" -Udo, 56, langzeitarbeitssuchend. Wir werden oft gefragt, ob wir uns als die neue Hamburger Schule sehen. Wir tendieren zu Hamburger VHS-Kurs.

Wir sind Die Cigaretten. Hamburger Schule trifft D.I.Y. Garage. Wir entreißen der Tabakindustrie Freiheit und Freude. Aber bist du sicher, dass das jemanden interessiert? Was ist mit Fragen, wie: „Auf welchen Pillen seid ihr grade?" "Wie wichtig ist Marihuana für euch?" oder "Was waren eure letzten Schönheits-O.P.s?“

Erregung öffentlicher Erregung: Krautpunk. Pimärreize und einfache Wahrheiten. Hemmungslos und wertvoll.

Jungs in Cordhosen: Direkter, positiver deutscher Pop-Rock, mit authentischen, humorvollen Texten. (...) Konzerte mit dem Publikum sind besser als jede Show vor den Fans.

Die Antworten wurden aus redaktionellen Gründen zum Teil gekürzt.

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