Dr. Simon: Warum man sich nicht selbst lieben muss, um geliebt zu werden

"Du bist so weise", sagte meine Mutter jedes Mal zu mir, wenn ich in meinen späten Teeniejahren pickelhäutig Beziehungsratschläge an Freundinnen verteilte. Obwohl gerade selbst das erste Mal verliebt, fruchteten meine Tipps und Einwände bei anderen. Und so wurde mein Spitzname über die Jahre "Dr. Simon". Die immer zur Stelle war, wenn Tränen flossen oder Unverständnis für's favorisierte Geschlecht herrschte. Nicht, dass ich wirklich weise wäre. Ich habe eine Menge blöder Entscheidungen getroffen, wütend Türen geknallt und nächtelang vor Liebeskummer geheult. Trotzdem legen sich viele gerne auf die Couch von Dr. Simon. Also, macht es euch bequem!

Warum man nicht sich selbst lieben muss, um geliebt zu werden

An einem der letzten wirklich schönen Sommertage saß ich mit einer Freundin beim Mittagessen, wir tauschten uns über unsere Jobs aus und klar – auch was die Liebe so macht. Sie war genervt, in ihrer neuen Beziehung gab es viele ungeklärte Dinge. "Vielleicht war es zu früh", meinte sie über die Käsespätzle hinweg. "Vielleicht muss er sich selber erstmal finden, bevor das mit uns funktionieren kann." Meine Reaktion war für sie und mich gleichermaßen überraschend, denn ich rief "So ein Schwachsinn!".

Ich entschuldigte und beriet mich mit ihr, dann gingen wir mit schweren Mägen und etwas leichteren Herzen (zumindest bei ihr) unseres Weges. Abends dachte ich nochmal darüber nach, warum ich mit dieser populären Meinung so gar nicht einig bin.

Auf jedem Cover von Frauenzeitschriften, in Ratgeberbüchern, ja selbst auf Tassen prangt: "Liebe dich, um geliebt zu werden!" Ich sage "Bullshit". Kann einem der richtige Mensch nicht helfen, sich zu lieben?

Meine eigene Erfahrung hat mir gezeigt: Sich selbst aufzurappeln ist viel schwieriger, als wenn man dabei eine Hand gereicht bekommt. Warum also ganz alleine klarkommen, wenn einem jemand dabei unterstützen kann? Natürlich setzt das voraus, sich dem*der anderen voll zu öffnen und ihm Vertrauen zu schenken. Doch das ist eine andere Sache.

Wer sich selber nicht liebt, der gerät doch oft in eine Spirale. Entdeckt immer wieder Macken, die er*sie an sich selber hasst. Die jemand anderes aber vielleicht weniger schlimm findet – oder sogar liebt.

Meine beste (und jetzige) Beziehung startete, als ich nicht gerade auf freudiger Höhe war. Eher ziemlich bodennah. Natürlich war es kein Raketenstart in Richtung Selbstliebe, doch nach und nach brach behutsam meine Fassade, meine Probleme wurden kleiner gestreichelt, meine Sorgen erhört – nachts um zwei, Sonntags um zehn und auch fünf Tage hintereinander.

Ich begann mir Dinge zuzutrauen, mit unterstützenden Armen. Wuchs mit einer gehaltenen Leiter über mich selber hinaus. Was dabei herauskam – Stolz auf mich. Und damit Selbstliebe. Die ich ohne die Liebe des anderen alleine nicht so einfach erreicht hätte.

Auch Jahre später, wenn der Boden mal wieder zu nahe kommt, ist jemand da, der mich hochzieht. Mir den Staub abklopft und Mut zuredet.

Als ich also ein paar Tage später meine Käsespätzle-Freundin wieder traf, sagte ich deshalb folgendes zu ihr: "Man muss doch kein vollständiges Puzzle sein, bevor man jemanden trifft. Was, wenn man nie alle Teile findet, wartet man dann für immer, bis man sich lieben lässt? Oder füllt man die Lücken einfach mit den Puzzleteilen, die der andere bereithält. Ich finde, man lässt sie einfach offen, weil man auch unvollständig geliebt wird."

Denn wer will schon jemanden lieben, der perfekt ist? Keine Probleme hat und nie an sich zweifelt. Das wäre doch zum Gähnen öde. Also: liebt euch! Und: lasst euch lieben!

Ihr würdet euch gerne mal auf die virtuelle Couch von Dr. Simon legen? Habt ein Herzensthema, auf das ihr keine Antwort kennt? Dann schreibt an [email protected]. Wir behandeln eure Fragen natürlich vertraulich und anonym!

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