Diese Stadt verliert ihr Gedächtnis: Denkmalschutz in Hamburg

© Alexandra Brucker

Dezember. Ich stehe vor dem Blauen Barhaus in Ottensen. Nicht mehr lange, dann ist das Häuschen passé.  Als ich mich umdrehe, passiert’s! Das Thema Denkmalschutz hat sich an mein Bein geklammert. Auf dem Heimweg versuche ich das Monstrum mit dem Backstein-Popo und der 80-er Jahre Frise abzuschütteln. Doch der Denkmal-Grinch folgt mir auf Schritt und Tritt. Er ist da, als ich später am Nachmittag an der Schilleroper vorbeischlendere. Er ist da, als ich kurz vor Weihnachten mit dem ICE an den City-Höfen vorbeizische. Er ist da, als ich nach Silvester beobachte, wie die Bagger an der Postpyramide knabbern. Der Denkmal-Grinch ist ü-ber-all. Kein Wunder, das Thema knallt wie ein Feuerwerk am Hafengeburtstag: Denkmalschutz und Hamburg - eine offene Baustelle!

Diese Stadt verliert ihr Gedächtnis

Was macht Hamburg aus? Für die Beantwortung dieser Frage linse ich täglich in versteckte Ecken der Stadt. Woche um Woche stoße ich mit Nasenspitze und Fotolinse auf Wandel und Aufbau, auf Abriss und Zerfall. Ein Blick auf Hamburg verrät: In vielen Bezirken schwindet das kulturelle Erbe dahin. Bedroht, manchmal zerstört, werden meist die „Zwerge“, die alltäglichen Bauten; ein blaues Barhaus, ein Landhaus, ein Hafenkiosk, eine Fabrik, ein Nachkriegswohnhaus. Ihr Abriss macht selten große Schlagzeilen. Nicht jedes dieser Gebäude steht unter Denkmalschutz. Das Unscheinbare hat keine Lobby. Die Amnesie schleicht durch Hamburg, erstaunlich lautlos – trotz brüllender Bagger. Diese Stadt verliert ihr Gedächtnis.

Die Hamburger Demenz diagnostiziert sich anhand von Zahlen: Nur zehn Prozent aller Gebäude in Hamburg sind 100 Jahre oder älter. Diese zehn Prozent stehen noch tapfer da. Denn Hamburg hat ziemlich engagierte Bürger, die sich gegen das Tabula-Rasa-Denken wehren. Sie protestieren gegen die Zerstörung der Schilleroper  oder stellen sich schützend vor die letzte intakte Kaufmannshäuser-Zeile an der Deichstraße. Doch die Abrisskrankheit bleibt. Hamburg drückt auf seinen „auto-delete“-Knopf.

Der Knackpunkt: Was ist von „öffentlichem Interesse“?

Dabei sah die Situation 2013 hoffnungsvoll aus. In dem Jahr tritt ein neues Denkmalschutzgesetz in Kraft. Die Zahl der eingetragenen Denkmäler klettert schlagartig von 1900 auf 3000 an. Friede, Freude, Eierkuchen im Gebäudeparadies? Wenn da nicht der verflixte  9. Paragraph wäre: Der Senat darf die Abrissgenehmigung eines denkmalgeschützten Gebäudes erteilen, wenn „überwiegende öffentliche Interessen dies verlangen“. Öffentliche Interessen, das sind: Wohnungsbau, energetische Sanierung, Einsatz erneuerbarer Energien, Belange von Menschen mit Behinderungen oder Mobilitätsbeeinträchtigungen. Klingt nachvollziehbar. So weit, so gut. Dennoch frage ich mich, ob angesichts des ehrgeizigen Ziels, in Hamburg jährlich 10.000 neue Wohnungen zu bauen, überhaupt noch Raum – und das im wörtlichsten Sinne - für so etwas wie Denkmalschutz ist.

Der Denkmal-Grinch sitzt aufgeregt zu meinen Füßen und zuckelt freudig an meinen Schnürsenkeln herum. Sind Schuhe von öffentlichem Interesse oder können die weg?

Von einem öffentlichen Interesse namens „Profit“ steht interessanterweise nichts im Gesetz. Per se ist Hamburg ja mächtig stolz auf sein Hanseatentum. Obwohl die -burg vor dem Ham- steht, war sie nie eine Residenz wie München oder Berlin. Sie war selbstverwaltet, sie war frei und lange Zeit de facto von den Kaufleuten regiert. Nun wäre ein Kaufmann kein sonderlich erfolgreicher Kaufmann, strebte er keinen Handel und Profit an. Wenn Hamburg unterschwellig immer noch von modernen Kaufleuten regiert wird – gehört der Profit dann zu den öffentlichen Interessen, die den Denkmalschutz aushebeln können? So scheint es zumindest in der Praxis. Der Abriss eines Denkmals wird oft als beste und billigste Variante angepriesen. Handwerker sind schließlich teurer als Material. Stillschweigend nimmt der Senat daher bei zahlreichen Hamburger Bauprojekten den Abriss der Stadt in Kauf. Die denkmalgeschützte 103 Jahre alte Metallfabrik am Billbrookdeich? Zerstört für den Bau eines Logistikzentrums. „Mord!“, höre ich die Denkmalschützer schreien. „Öffentliches Interesse“, skandiert der Schlipsträger im teuren Zwirn. Ja, was denn nun?

Der Grinch hat sich hinters Sofa verkrochen und jault furchterregend vor sich hin. Krokodilstränen kullern sein Putz-zerfleddertes Gesicht herunter.

Ein gutes Denkmal ist scheinbar nur eines, das sich rechnet. Nicht selten lassen Eigentümer ihre denkmalgeschützten Gebäude so lange verfallen, bis ein Abriss unvermeidbar und der Weg frei ist für die Spekulation. Ein solches Schicksal droht zum Beispiel dem Landhaus Mahr in Bergstedt, dessen Wohngemeinschaft 2011 gekündigt wurde und seitdem langsam, aber sicher verfällt.

Müssten da nicht die Denkmalschützer auf die Barrikaden? Das Beispiel der City-Höfe zeigt, welchen Einfluss das Denkmalschutzamt in Hamburg besitzt. In der Theorie hat sich die Stadt mit seinem Gesetz dazu verpflichtet, als gutes Vorbild in punkto Denkmalpflege voranzuschreiten. In der Praxis gilt eher die Devise: Wenn es zu teuer wird, pfeift der Senat auf Denkmäler. Es wird nicht mehr zu verhindern sein, dass die City-Höfe im kommenden Sommer abgerissen werden. Doch ein Gesetz, das die Stadt anwendet, wenn es ihr in den Kram passt, ist ein Witz. Ja, ja: Hamburg ist ein freier Handelsplatz. Doch Denkmalschutz ist kein Handelsobjekt. Und der erwartete Profit ein äußerst schlechtes Argument. Will Hamburg sein gesamtes Erbe der Rendite opfern? Zählt Geld mehr als Geschichte?

Was ist der Stadt wichtig? Was will Hamburg bewahren?

Ziehen wir noch einmal das blaue Barhaus in Ottensen zurate. Es ist eines der ältesten seines Stadtteils – steht jedoch nicht unter Denkmalschutz. Eisladen, Café, Kneipe – das Häuschen ist ziemlich gesellig und diente bis heute als Versammlungsort seines Viertels. Das macht den Charme der „Zwerge“ aus. Nicht selten entdecke ich urige Hafenkioske oder Kultkneipen, die den Mojo haben – oft ist in diesen „Kleinen“ mehr aufgehoben als nur private Erinnerung. Ein sozialer und kreativer Jackpot! Im Falle des blauen Barhauses spielt das keine Rolle mehr. Wie es anders gehen kann, zeigt der Fall „Mutzenbecher“.

Die rosane, denkmalgeschützte Villa Mutzenbecher ist ein echter Blickfang im Niendorfer Gehege, stand jedoch bereits kurz vor dem Abriss. Nach langen Verhandlungen überließ die Stadt dem gemeinnützigen Verein „Werte erleben e.V.“ das Backsteingebäude für dreißig Jahre mietfrei. Der Verein verpflichtete sich im Gegenzug für die Instandsetzung des alten Hauses. Die Arbeiten an der Villa werden nun von Studierenden und Schülern durchgeführt. Das Haus soll später als außerschulischer Lernort dienen. Fazit dieser Rettung: Der Fall „Mutzenbecher“ wird heute als EU-Vorzeigeprojekt gehandelt!

Ist potthässlich, kann das weg?

Nun sind ein Barhaus und Villa im Wald natürlich Everybody’s Darling. Interessanter wird es bei den Buden, mit denen wir nichts anzufangen wissen. Der City-Hof! Die Postpyramide! Die Commerzbank am Neß! Bei denkmalgeschützten Gebäuden aus der Nachkriegszeit posaunen viele Menschen schnell: „Der Kasten ist potthässlich und gehört abgerissen.“ Aber – so platt es auch klingen mag - was ist schon schön? Die einen empfinden die City-Höfe als Wunderwerk der Stadt, bei den anderen provozieren die fünf Freunde am Klosterwall nur einen ausgeprägten Würgereiz. Wird alles, was wir heute als schön oder hässlich empfinden, auch noch in 50 Jahren diesen Ansprüchen gerecht? In den 20ern waren die Gründerzeithäuser verpönt, heute sind sie beliebter denn je. Anders als mancher Laie glaubt, erklärt das Denkmalschutzamt nicht alles zum Wahrzeichen, was golden glänzt wie das Rathaus. Die Kriterien sind ganz andere; historische, künstlerische, wissenschaftliche. Immer wieder die Frage: Was verrät uns das Gebäude über Hamburg?

Zurück zu den hässlichen Klötzen. Sind es nicht diese Scheusale, welche die interessantesten Brüche in einer Stadt erzeugen? Den Feldbunker empfinde ich wie eine offengelegte Narbe der Hamburger Geschichte. Das Mahnmal ist ein Stimulus für jeden, der seine Umgebung bewusst wahrnimmt. Was passiert, wenn diesem Kriegsgebäude ein grüner Hut aufgesetzt wird? Lässt die Stadt damit nicht leichtfertig Gras über ihre Geschichte wachsen?

Villa Mutzenbecher und Viktoria-Kaserne – die Leerräume der Zukunft?

Soll Hamburg etwa ein Museum werden? Natürlich nicht! Doch verstaubt diese Stadt wegen ihrer denkmalgeschützten Gebäude? Ich meine nicht. Sie verstaubt vielmehr, weil sie ihre leerstehenden Räume nur spärlich ausschöpft und denkmalgeschützte Gebäude lieber verfallen lässt, als sie zur Nutzung freizugeben. Der wirksamste Schutz gegen den Verfall von Denkmälern ist doch in erster Linie der, diese erst gar nicht leer stehen zu lassen. Die Aktionen um die Villa Mutzenbecher in Niendorf oder die Viktoria-Kaserne in Altona zeigen, welchen gesellschaftlichen Profit Hamburg auch mit einer weniger privatwirtschaftlich orientierten Raumnutzung erzielen kann. Um alle ihre Pläne in der Viktoria-Kaserne verwirklichen zu können, holen die Altonaer Genossen sozial engagierte Investoren ins Boot. Der Begriff „Investition“, der vom Lateinischen investire - einkleiden - rührt, entfaltet auf diese Weise prachtvoll seine Bedeutung. Jene Investoren kleiden Hamburg ein – und zwar mit nachhaltigen, originellen, zukunftsorientierten Klamotten.

Botox-Hamburg versus Falten-Hamburg

Zugegeben: Dabei steht nicht immer ein aalglattes, überplantes, gebotoxtes Hamburg im Vordergrund. Dafür eine Stadt mit Falten und Runzeln. Eine raue, aber umso kreativere und humane Stadt. Die Frage um den Denkmalschutz ist keine verstaubte. Im Gegenteil. Sie befasst sich damit, wie die Hamburger eigentlich in Zukunft leben wollen. Sie befasst sich mit dem Traum um den Raum. Was ist euch zu teuer, um euch zu teuer zu sein? Was wollt ihr erhalten, was erneuern? Was ist denk-, was ist schutzwürdig? Im Endeffekt: Was ist Hamburg?

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