Wir müssen reden über: Stadtteil-Chauvinismus

Mehr als 100 Stadtteile gibt es in der Metropole, die von annähernd jedem Einwohner als schönste Stadt der Welt bezeichnet wird. Ob Zugezogener oder Störtebekers Ur-Ur-Ur-Enkel sei erstmal dahingestellt. Es geht hier auch nicht darum die Stadt schlecht zureden – Nein. Warum auch? Aber worum geht es denn?

Es geht darum, dass neben der Schanze und St. Pauli auch die vielen anderen Viertel der Stadt ein wenig mehr Liebe verdient haben. Das Glück liegt auf der Straße und die reicht nicht nur von Schnanzenstraße bis Nobistor. Erhobener Zeigefinger? Nein. Eher ein Mittelfinger an die, die Steilshoop, Dehnhaide und Rahlstedt belächeln. An die, die zwar die ganze Welt gesehen haben, die Tellerrandgewordenen Stadtteilgrenzen jedoch nicht überschreiten können. Und wollen.

Stadtteil-Was? Ein Versuch der Veranschaulichung

Du wachst Samstag morgens auf und merkst, dass der letzte Gin Tonic schlecht war – vielleicht auch die letzten vier. Anders lassen sich deine Kopfschmerzen nicht erklären. Der Verlauf des heutigen Abends ist bereits besiegelt.

Titelfoto: © Elizabeth Lies/Unsplash
© Elizabeth Lies/Unsplash

Dein ebenso restalkoholisierter Freund wird heute ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit das Tageslicht nur aus dem Fenster des Wohnzimmers erblicken. Pizza und Netflix kristallisieren sich als einzige Option heraus, die sowohl Leib, als auch Seele noch mehr Leid ersparen. Nur nicht zusammen, oder – noch schlimmer – in deinen vier Wänden, denn du wohnst in Borgfelde.

Digga Nein. Das sind 17 Minuten mit der Bahn!
Dein Kumpel

Mehr als ein süffisantes Lachen beim Vorschlag, doch bei dir Abzuhängen hörst du nicht am anderen Ende der Leitung. Irgendwas zwischen "Was ist mit ihm los?" und dem ersten Ansatz von Wut und völliger Verständnislosigkeit bringt dich allmählich in Wallung.

Enter the void: Wohnen in der Leere

Doch woran liegt das? Überheblichkeit der Anderen? Ist dein Stadtteil wirklich scheiße? Vielleicht ist der Grund auch egal und die reine Forderung nach mehr Liebe muss einfach reichen.

Als ein in Borgfelde Ansässiger wurdest du – ja genau du – auch schon gefragt, wo das denn sei, beziehungsweise wie du denn auf die Idee kommst, da zu wohnen. „Da is' ja nix!“.

Neu-Hamburg-Besuch-Reise
© Maria Anna Schwarzberg

Genau. In deinem Stadtteil gibt es Nichts. Es gibt weder Kneipen noch Cafés und da wohnt sonst auch Niemand. Du wohnst da ganz alleine zusammen mit zirpenden Grillen. Der Stadtteil ist gekennzeichnet von vorbeiwehenden Heuballen und der ständigen Angst, dass eine Horde Zombies um die Ecke lauert.

Der Hammer der Gerechten

Zugegeben, vielleicht verlangt solch ein abstrakter Quatsch einfach ein wenig Überspitzung. Aber es bringt auch nichts, dieses dennoch nervige Phänomen völlig unbehandelt zu lassen. Alleine aus dem Grund, dass dieses Herabblicken auf andere Stadtteile keine Einbildung ist, schwinge ich den Hammer der Sozialwissenschaft und schleudere genau diesen den Richtigen um die Ohren:

Stadtteil-Chauvinismus: Die Überzeugung der kulturellen Überlegenheit des eigenen Stadtteils i.V.m einem geringschätzenden Blick auf andere Viertel der selben Stadt und deren Bewohner.
Andreas Baur

Es ist ein trauriges Schicksal welchem du dich fügen musst. Niemand will zu dir. Du bist völlig isoliert. Man vermutet, dass du dort wahnsinnig wirst. Andererseits hat man großen Respekt vor dir. Es grenzt an Selbstgeißelung, an ein Martyrium welches du auf dich nimmst, nur damit es andere besser haben können; dass andere am Schulterblatt wohnen dürfen. Es ist ein Trauerspiel. Aber es stört dich nicht. Auch wenn dein Stadtteil scheinbar nur von Leid und Trauer gekennzeichnet ist, stört es dich nicht. Merkwürdig.

Wo wart ihr vergangenes Wochenende? Feiern in Horn? Cornern in Stellingen? Grillen im Hammer Park? Nein. Ihr wart in der Schanze, auf St. Pauli oder in Altona unterwegs, zusammen mit eurem Kumpel aus Borgfelde. Natürlich macht er sich auf die Socken um zu euch zu kommen. Vielleicht hat er nicht die Kohle, nicht das Glück gehabt eine Bude in den guten Vierteln zu bekommen. Aber ist ein gesundes Bewusstsein zu viel verlangt? Das Bewusstsein, dass dein Kumpel von Wochenende zu Wochenende immer wieder in euer Viertel kommt? Ein wenig Selbstreflexion und die damit hoffentlich einhergehende Anerkennung wird dir zumindest nicht schaden.

Zurück zur Startseite