Seit 90 Jahren: Ein Stück Hamburg, das Tschechien gehört

© Alexandra Brucker

Fernweh? In Hamburg liegt Tschechien direkt vor eurer Nasenspitze. Neben Veddel und Elbbrücken schlummert ein skurriles Stück Land. Dort döst selig und unbemerkt – die tschechisch-deutsche Grenze. Wir sind auf ihr herumgetrampelt, haben sie geweckt und mit ihren stillen Zeitzeugen geplaudert.

1. Eine Landesgrenze im Dornröschenschlaf

Einsam ist es hier. Einsam und ruhig. Das ist ungewöhnlich, denn ich befinde mich am Hafen. Es ist montagmorgens. Hier sollte wirklich mehr los sein. Doch geschäftiger Trubel? An diesem Ufer vollkommene Fehlanzeige. Einst durften deutsche Beamte das eingezäunte Gebiet nicht unangemeldet betreten. Doch die Schranke an der Zufahrt zum Saalehafen hat längst ihren Schrecken verloren. Kein Wächter hält mich von einem Bummel über das asphaltierte Gelände ab. Dabei habe ich - just in diesem Moment – doch eine Landesgrenze überschritten. Dobrý den! Jemand zu Hause?

Moldauhafen | © Alexandra Brucker

2. Von HH zu ČSR? Wie die Tschechoslowakei nach Hamburg kam

Seit 90 Jahren besitzt der tschechische Staat sein eigenes Reich im Hamburger Hafen. Tschechien in Hamburg, dieses Kuriosum geht zurück auf den Ersten Weltkrieg. Nach seiner Niederlage musste das Deutsche Reich den Tschechoslowak*innen einen zollfreien Zugang zum Meer ermöglichen. So schrieb der Versailler Vertrag von 1919 vor: "In den Häfen Hamburg und Stettin verpachtet Deutschland der Tschecho-Slowakei für einen Zeitraum von 99 Jahren Landstücke, die (...) dem unmittelbaren Durchgangsverkehr der Waren von oder nach diesem Staate dienen sollen."

Die Verhandlungen zogen sich zehn zähe Jahre hin. Am Schluss siegte der Pragmatismus. So unterzeichneten die Hamburger und die Prager Delegationen im November 1929 einen Pachtvertrag: Die Tschech*innen erhielten eine Mini-Halbinsel am Peutehafen sowie die Ufer-Grundstücke am Moldau- und am Saalehafen – mit der Garantie der freien Zufahrt für ihre Binnenschiffe. Von HH zu ČSR! 28.500 Hamburger Quadratmeter wurden nun tschechoslowakisch - später tschechisch.

Moldauhafen | © Alexandra Brucker

3. Kaffee, Kakao und die goldene Ära - als Dornröschen noch Party machte

Ich blicke auf das schnarchende Hafenbecken und schließe die Augen. Schwer vorstellbar, dass hier früher die Luzi abging. Ich korrigiere mich: Wenn hier irgendwer abging, dann wohl eher Marek, Eliška oder Jakub!

Früher. Langsam tauchen vor meinem inneren Auge Dutzende Binnenschiffe auf, die Tag für Tag an dieser Stelle anlegten. Von der Tschechoslowakei aus waren sie die Elbe hinuntergefahren – bis nach Hamburg. Es war eine goldene Ära. Kaffee, Kakao, Futtermittel und Getreide brachten die Frachtschiffe in die Heimat. Exportiert wurden später häufig Industriegüter.

In den 80er Jahren verfügte die Tschechoslowakische Elbe-Schifffahrtsgesellschaft - die ČSPLO - über mehr als 600 Transportschuten und Binnenschiffe. Bei den Deutschen waren Jobs in Moldau- und Saalehafen begehrt, bezahlten die Tschech*innen die Deutschen doch besser als ihre eigenen Landsleute.

© Alexandra Brucker

4. Stumme Zeugen - wenn Telefonzellen reden könnten!

Stumme Zeugen - eine Telefonzelle, ein Kran, ein vergammelnder Anleger - beobachten meine unsicheren Schritte über das Gelände. Es herrscht eine Stimmung wie bei Disneys "Die Schöne und das Biest"; wundern würde es mich nicht, wenn sich die Gegenstände jetzt in meinem Rücken verwandeln und dem Ort ihr altes Leben einhauchen würden.

Die Telefonzelle zum Beispiel, sie lässt mich nicht aus den Augen. Jahre lang war sie die wichtigste Verbindung hier, die Nahtstelle zur Heimat: Zum Feierabend konnten die tschechischen Hafenarbeiter*innen von dem Kasten aus ihre Familien und Freunde anrufen. Längst ist der Hörer verschwunden und die Telefonzelle verstummt. Schweigsam schmiegt sie sich nun an das Verwaltungsgebäude. Einst von der ČSPLO belegt, steht es heute leer. Es ist asbestverseucht.

Nebenan liegt das Sozialgebäude, es wurde Anfang der 80er Jahre gebaut. Seine 1- und 2-Zimmerwohnungen waren ausschließlich für die tschechischen Schiffer und Lkw-Fahrer gedacht. Zur Zeit des Kalten Krieges durften auf tschechischer Seite nur linientreue Kommunisten in Hamburg arbeiten. Die Männer erhielten eine Arbeitsgenehmigung für ein halbes Jahr. Frau und Kinder mussten in der Heimat bleiben – denn wo hätten sie hinsollen? Als oberstes Gebot galt: Ja nicht auffällig werden! Bis heute halten sich Gerüchte, dass der tschechische Geheimdienst im Moldau- und Saalehafen aktiv war. La Le Lu, nur der Mann im Schiff hört zu?

Sozialgebäude | © Alexandra Brucker

5. Auf Schilder-Schnitzeljagd der tschechischen Vergangenheit

Wer zweimal hinschaut, kann an und in den Gebäuden noch mehr Hinweise auf die glorreiche alte Zeit entdecken. Die Schnitzeljagd führt mich immer wieder zu abgefledderten Aufschriften und vergilbten Schildern; am Verwaltungsgebäude prangt eines, das auf die ČSPLO verweist. Die auf Deutsch und Tschechisch beschrifteten Tafeln im Hausflur des zweistöckigen Blocks sind inzwischen nutzlos. Auf dem Parkplatz des Verwaltungsgebäudes ist bis heute ein Platz für die Mitarbeiter*innen des "Klubschiff" reserviert.

Verwaltungsgebäude | © Alexandra Brucker

6. Das Klubschiff – auf der „Praha“ Knödel futtern und Budweiser trinken

Klubschiff? Ich drehe mich um und laufe nochmal ans Ufer. Dieses liegt still da, wie gehabt, in Schlummerfunktion. Doch an verrotteten Pfeilern sind bis heute die Ketten zu sehen, an denen die berüchtigte "Praha" festgemacht war. Mehr als 50 Jahre lang lag im Saalehafen das weiße Partyschiff und bot den Tschechen ein Stück Heimat fern der Heimat.

Hier wurden sowohl tschechische als auch deutsche Hafenarbeiter mit böhmischer Küche verwöhnt. Die 0,75 Liter-Flaschen mit tschechischem Bier hießen bei den Stammgästen "Elefantenspritze". Neben der Kantine gab es auf dem Klubschiff auch ein Kino, einen Spielsalon, ein "Kasino" für die Chefs, Kajüten für die Schiffer. An Bord konnten die Tschechen mit Kronen bezahlen. Das Werkstattschiff nebenan ermöglichte Reparaturen auf dem Wasser.

Ein Zeit-Reporter schrieb Anfang 1955: "Ein tschechoslowakisches Kulturschiff hat im Hamburger Hafen festgemacht. Es führt ein einsames Dasein. Das mag so recht im Sinne des tschechoslowakischen Staates sein. Sehr viel weniger aber mag es den Wünschen der Elbfischer entsprechen, denn hier gewissermaßen kaserniert zu leben, ist für einen Seemann kein Ersatz für die Reeperbahn." Nach der Wende diente die "Praha" mit ihrem Ost-Charme noch eine Zeit lang als Party-Location für Nachtschwärmer*innen.

Danach lag es einige Jahre ungewöhnlich stumm im Saalehafen. Man suchte eine*n Käufer*in: Mal hieß es, die "Praha" solle künftig als schwimmendes Studentenwohnheim im Iran dienen. Dann war von Interessent*innen aus Schweden die Rede. Inzwischen ist die "Praha" zurück nach Prag getuckert, wo sie als Hotelschiff genutzt wird.

© Alexandra Brucker

7. Schlaf, Tschechien, schlaf - Ende mit Wende und ohne Schrecken

Im Moldau- und Saalehafen waren mehr als 300 Menschen beschäftigt, Deutsche und Tschech*innen. Von den zahlreichen Leuten, die dort arbeiteten, sind heute alle weg. Der Niedergang des Hafengeländes begann mit der politischen Wende im Ostblock. Die staatliche Reederei wurde privatisiert, die Schiffe abgegeben. Nach und nach wurde alles verkauft.

In den 90er Jahren lohnte sich die Binnenschifffahrt dann nicht mehr. Längst konnten die Waren schneller und günstiger mit dem Lastwagen transportiert werden. Viele tschechische Firmen setzten auf die Bahn. 2001 meldete die ČSPLO schließlich Konkurs an. Seitdem hat das Gelände sich schlafen gelegt. Direkt nebenan donnern heute unzählige Züge und Lastwagen vorbei, auf dem Wasser ist es aber nahezu still. Die goldene Ära der 70er und 80er Jahre ist nur noch zu erahnen. Vergessen liegt Tschechien in Hamburg.

Saalehafen | © Alexandra Brucker

8. Lost place auf Zeit - Tschechien bekommt neues Land

Es ist ein vergessener Ort – auf Zeit. In der Theorie sollte der Pachtvertrag mit den Tschechen noch bis November 2028 laufen. Dann fällt das Gelände automatisch an die Stadt Hamburg zurück. So sieht es der Vertrag vor. Doch mit einer wohlbekannten Dame musste der Tschechen-Hafen inzwischen schon Bekanntschaft machen: mit Frau Bauwut. Auf der Elbinsel, wo ursprünglich das Olympische Dorf geplant war, sollen in Zukunft Wohnungen und Büros stehen.

Wenn der kleine Grasbrook groß rauskommen will, muss jemand weichen – und das ist Tschechien. Hamburg spielt wie so oft "Stadt, Land, im Fluss" mit der Sonderkategorie "Neubauten". Saale- und Moldauhafen sollen deshalb nun geweckt werden. Daher reibt sich die Tschechische Republik schlaftrunken die Augen und zieht um. Ihren Hafen hat sie gegen eine Fläche nahe des Stage Theaters eingetauscht. Tschechien liegt jetzt bald in Kuhwerder. Na dann gut‘ Nacht!

Moldauhafen | © Alexandra Brucker
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