Geisterdorf Altenwerder: Ein Stadtteil, zwei Bewohner
Es war einmal ein Stadtteil, der nahm es mit den Sprichwörtern sehr genau. Seine Kirche blieb im Dorf, obwohl es das Dorf nicht mehr gab. Heute leben dort nur noch zwei Menschen. Halloween naht, also brechen wir auf, ins Hamburger Geisterviertel: Altenwerder!
Alleine in Altenwerder, zwischen A7 und Containerterminal
Die Fahrt nach Altenwerder ist skurril. Wer sich an einem Wochentag mit dem Auto auf den Weg zur St. Gertrudkirche macht, der kommt sich vor, wie auf eine andere Daseinsebene katapultiert. Ein kleiner Pkw, unterwegs in einem Endlos-Konvoi schwerer Lkws. Ich setze noch eins drauf. Ich nehme den Bus. Mit dem 250er vom Bahnhof Altona düse ich durch den Elbtunnel und tauche in einer anderen Sphäre wieder auf.
Der Bus galoppiert wie irre die Autobahn entlang. Zwischen Containerterminal und A7 quietschen die Bremsen, die Türe springt auf, das Transportmittel spuckt mich aus. Haltestelle „BAB-Auffahrt Waltershof“. Ich drehe mich einmal verwundert um meine eigene Achse, da höre ich den Bus schon mit einem lauten Zischen fortdüsen. Mir stockt der Atem. Es rattert, klappert, pfeift und dröhnt. Ich bin alleine. Alleine in Altenwerder.
Und ich so: „Hafen, wieso hast du so große Zähne?“
Obwohl ich mich im Stadtteil Altenwerder befinde, ist von Altenwerder bisher nichts zu sehen. Wie ein Insekt, das sich in einem Spinnennetz verheddert hat, bin ich in einem Niemandsland aus Kreuzungen gefangen. Von fern die Rettung. Ich entdecke das Schild, das mein Ziel abbildet: die Kirche, die im Dorf geblieben ist. Monstertrucks donnern an mir vorbei. Wieso irre ich hier bloß herum, in diesem Wirrwarr an Lärm und Luftverpestung? Als ob ich keinen Hafen hätte. Ich lache, denn genau hier ist der Hafen doch. Aber dieser Hafen hat nichts mit Landungsbrückenidylle und Touristenfähren am Hut. Dieser Hafen ist laut, lärmend, aggressiv. Dem knatternden, ratternden Etwas schreie ich entgegen: „Hafen, wieso hast du so große Zähne?“ Und der Hafen brüllt: „Damit ich dich besser fressen kann.“
Commander Harbour ist wahrhaft gefräßig. Er hat bereits einen ganzen Stadtteil im Magen. Deshalb bin ich ja hier. Ich muss dem Hafen in den Bauch spähen. Doch die Aufgabe ist knifflig: Wie finde ich ein Dorf, das nicht mehr existiert? Wie fotografiere ich Häuser, die verschwunden sind?
Lost places: Köhlbrand und Kino, Reetdach und Edeka
Ich drücke den Zeitreiseknopf im Kopf und beschwöre ein Hologramm auf: die 50er Jahre in Altenwerder. Das idyllische Fischerdorf mit dem lütten Hafen ist beliebt für seine bunten Hafenfeste und belebten Märkte. Knapp 2500 Personen leben an diesem Ort. Rund 280 Grundstücke stehen stramm. Ein Hotel, ein Kino, ein Ortsamt, eine Schule, der obligatorische Edeka.
Der Stadtteil, so erzählen es die Alten, besticht durch seine Natur. Kinder nutzen den Köhlbrand fast täglich zum Angeln. Die Höfe, die Gärten, die Felder, die Obstwiesen florieren. Auf der Straße wird Plattdeutsch gesprochen. In Altenwerder wird geboren, gelebt, gestorben.
Großes Hafenfressen: Goliath macht David platt
1961 zeigt Hamburg dem Stadtteil plötzlich seine hässliche Fratze. Mit dem Hafenerweiterungsgesetz dürfen die Einwohner des Dorfes nichts mehr bauen oder Wesentliches auf ihren Grundstücken verändern. Viele Menschen nehmen die Bedrohung, Haus und Hof zu verlieren, nicht richtig ernst. Doch 1973 wird die Räumung des Dorfes endgültig beschlossen. In den folgenden Jahren werden Häuser in großem Stil abgerissen.
1989 stehen nur noch elf Gebäude, zehn Jahre später räumen auch die letzten Widerständler ihre Bauernhäuser am Deich. 2002 wird ein hochmoderner Container-Terminal in Betrieb genommen. Goliath hat David plattgemacht. Es waren einmal 2500 Bewohner. 1990 noch 90. 1999 plötzlich 23. 2011 dann 12. Und heute? Da waren’s nur noch zwei. Altenwerder ist zur Geisterstadt geworden.
Zwei Geister, die ich rief: Bärbel und Bernd Uliczka
Das Hologramm ruckelt, die Bilder sind verschwunden. Eine Geisterstadt ohne Geister, das kommt mir suspekt vor. Und so rufe ich sie, die zwei letzten Geister Altenwerders. Die Antwort kommt, wie so oft, unerwartet – in der Person von Bärbel Uliczka. Denn Bärbel Uliczka ist so wenig Geist wie du und ich.
Vor mir sitzt eine Frau, voller beeindruckender Power und Präsenz. „Eine, die anpacken kann“, schießt es durch meinen Kopf. Das Ergebnis ihres Kampfwillens und ihrer Arbeit ist der „Trucker Treff“, in dessen Rachen ich mich vor zehn Minuten begeben habe. Nun hocke ich glücklich in der urigen Stube, im Lieblingseck meiner Gesprächspartnerin. Im Nachbarraum sitzen vereinzelt Lastwagenfahrer und Hafenarbeiter, Pendler und Rastsuchende. Wärmende Hausmannskost, wärmende Worte. Das findet jeder, der sich nur reintraut, beim Ehepaar Uliczka. Die Uliczkas sind im Register unter „Altenwerder“ gemeldet. Die zwei Letzten.
Der „Trucker Treff“, ein Geheimtipp im Hafen
Als in den 70er und 80er Jahren die Bewohner von Altenwerder auf die Straße gingen, blieben die ehemalige Bankangestellte und ihr Mann zu Hause. „Anstatt gegen die Stadt zu kämpfen, haben wir uns diese zur Verbündeten gemacht“, erklärt Bärbel Uliczka. „Seinerzeit gab es hier nur Kaffeeklappen, wo man für 50 Pfennig einen Kaffee kriegen konnte oder eine Bockwurst, die den Hunger etwas stillte. Mein Mann und ich wunderten uns, dass an diesem Ort – einem Welthafen – einfach keine Service-Station existierte.“ Wie wichtig solche „Inseln“ sind, wussten die beiden aus eigener Erfahrung. Bernd Uliczka war selbst Jahre lang als Lkw-Fahrer unterwegs.
In einem Gebäude, das bereits zum Abbruch bereit stand, entwickelten die beiden den ersten Autohof mit Rundumpaket: Tankstelle, Gaststätte, Parkplätze. „In den 40 Jahren sind dann zig Stationen dazugekommen, aber wir sind ein Kleinod geblieben, ein reiner Insider. Jahrzehnte lang sind wir die gleiche Strategie gefahren: Hier sollten die Trucker vor allem den persönlichen Kontakt spüren.“
Im Laufe der Zeit ist der Rasthof zum Treffpunkt für Stammgäste geworden. Auch die ehemaligen Bewohner des Stadtteils zog es oft her. Doch die Besuche wurden seltener, auch Altenwerder werden alt. Zum Teil kommen sie nun mit ihren Kindern. „Willkommen sind hier sowieso alle, nicht nur die Trucker“, sagt Bärbel Uliczka.
Wenn sie heute aus dem Fenster schaut, sieht sie Containerberge statt Wiesen, hört Maschinenrauschen statt Baumgeraschel. Ob ich schon da gewesen sei, fragt sie mich. Als ich verneine, erklärt sie mir: „Es ist etwas Besonderes. Das, was ich damals sah, machte mich traurig. Die Grundrisse der abgerissenen Gebäude waren ja noch gut sichtbar. Den letzten Fischer oder den letzten Landwirt, der gut 20 Jahre um sein Land gekämpft hat - alle diese entwurzelten Menschen habe ich gekannt.“
Eine Kirche zwischen Köhlbrandbrücke, Kohle- und Windkraftwerk
Ein LKW-Hupen reißt mich aus den Gedanken. Ich bin wieder draußen, bei Commander Harbour. Von weitem kann ich nun endlich das Überbleibsel dessen sehen, was ich gesucht habe. Ein kleiner Kirchturm. St. Gertrud steht wacker da.
Wo einst Kneipen und Krämerläden rundherum standen, wuchert heute nur noch wildes Grün. Umgeben von Erlen, Weiden und verwilderten Obstbäumen steht die alte Backsteinkirche wie eine verlorene, alte Frau zwischen dem Containerterminal und der Autobahn.
Im Norden steht die Köhlbrandbrücke, im Südosten das Kohlekraftwerk Moorburg, in unmittelbarer Nachbarschaft drehen sich seit 2008 die größten Windkraftanlagen Hamburgs, 198 Meter hoch, sechs Megawatt Leistung, genug für 15.000 Haushalte.
Résistance an der A7, Märchenhochzeit im Hafen
Ich nähere mich der Kirche, treffe an dieser gottverlassenen Stelle sogar einen Angler an. Gottverlassen, aber alles andere als ruhig ist es hier. Während ich St. Gertrud und den Friedhof umrunde, lässt mich das Dröhnen der Umgebung nicht zur Ruhe kommen. Der gurgelnde Hafen lacht das besiegte Dorf auch heute noch aus. Doch wie überall, wo die Großen über die Kleinen triumphieren, begegnet dem Giganten doch ein stummer, trotziger Widerstand.
Obwohl die St. Gertrudkirche inzwischen der Hamburg Port Authority gehört, hat sich die Thomasgemeinde Neuwiedenthal-Hausbruch dem Gotteshaus angenommen. Hier werden regelmäßig Messen gefeiert. Zahlreiche Taufen, Konfirmationen und Trauerfeiern, selbst Hochzeiten stehen jährlich auf dem Programm. An Heiligabend ist das Haus brechend voll. Gottverlassen sieht anders aus.
Brautpaare, die in Altenwerder heiraten, haben auf einer Wiese gleich neben der Kirche eine staatliche Anzahl von „Bäumen der Hoffnung“ gepflanzt. Dort lese ich auf einem Schild: „Liebe Besucher! Wir möchten Sie bitten, den Rest, der uns noch von Altenwerder geblieben ist, sauber zu halten.“ Während ich über einen Trampelpfad, vorbei an einem Tümpel, zum Deich spaziere, frage ich mich, wer sich alles hinter diesem „uns“ versteckt.
Und wenn er nicht gestorben ist, dann frisst er wohl noch heute
Als ich die Altenwerder Hauptstraße zurückschlendere, vorbei an Containern und Logistikhallen, wo früher Häuser standen, da surrt die Luft. Der Hafen raunt mir in den Nacken: „Damit ich dich besser fressen kann.“
Ich höre die Bremsen des Busses. Hafenarbeiter steigen aus, Hafenarbeiter steigen ein. Ich krame die HVV-Karte hervor, die Tür klappt zu, wir fahren ab. Raus aus Altenwerder, raus aus dem Hafen. Und wenn er nicht gestorben ist, dann frisst er wohl noch heute.