Clubs von gestern: Tiefenrausch (Ende 80er - Anfang 00er)

© Jan Freitag

Eintauchen, abtauchen, untertauchen: Wenn es um den bewusst bewusstseinsverändernden Wechsel in Gefilde fern der Norm geht, wird dafür gerne mal Wassersportvokabular verwendet. Denn einzutauchen in eine fremde Welt, abzutauchen durch die Oberfläche des Mediokren, unter den Alltag zu tauchen, als sei am Abend Ferienbeginn – all dies reklamiert ja fast jedes Freizeitangebot für sich, das einen Kurzurlaub von der Monotonie des Gewohnten verheißt. Ganz gleich ob Ausflugsziel, Reisedestination oder Wellnesstempel. Und in der Hopfenstraße, dort wo das Amüsier- jahrzehntelang ins Brauereiviertel ausfranste, gab es sogar alles zusammen: Tiefenrausch.

Hamburgs erste Kleinraumdisco mit elektronischer Liedstruktur

Tauchern wie Tänzern mit eigenem Erinnerungsspeicher geht da gleichermaßen ein wohliges Kribbeln durchs Gemüt. Schließlich war der kleine Kellerclub abgesehen vom unverwüstlichen Purgatory vermutlich Hamburgs erste Kleinraumdisco mit elektronischer Liedstruktur, dessen Innenausstattung vom Fabrikambiente damaliger Technoclubs konsequent abwich. Wer vor gut 30 Jahren House hören wollte, wurde seinerzeit noch vorwiegend ins Stroboskopgewitter geschickt oder – noch artifizieller: ins Lasershowunwetter. Dann aber eröffnete schräg gegenüber der unberührbaren Herbertstraße dieser pittoreske Laden mit dem Mischnamen aus Beidrehen, Abdrehen, Badengehen und alles wurde irgendwie anders. Milder. Märchenhaft. Seifenblasig.

In den klinisch-kühlen Achtzigern am Übergang zu den übersteuert-beliebigen Neunzigern war er somit ebenso die Antithese zur herrschenden wie zur aufkommenden Partykultur jener Tage: Weder aseptisch wie Tunnel und Traxx noch poppig wie der analoge Rest des Mainstreams. Sondern wohlig warm und doch sehr künstlich. Schon dieser Einstieg: Ein paar Stufen abwärts ging es durch die wellenfarbig bemalte Fassade mit Tropenfischen hinab zur Tiefsee. Über der Theke hingen Fangnetze und Schwimmflossen, gesäumt von allerlei Korallenriffgetier aus Pappe, Plastik, Spielzeugläden in jedem Winkel. Und die maritime Dekoration garnierte einen Weg zum Dancefloor, der eigentlich fast überall war – so winzig der Meeresgrund unterm Kopfsteinpflaster daherkam.

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Kiez und Chichi-Kultur

Getanzt wurde darauf zu einer Art quirliger Entspannungselektronica, die dem damaligen Abzweig des langsam erwachenden Kiezes in die Chichi-Kultur ent-, zugleich aber auch widersprach. Nebenan rollte ja grad eine Kuschelwelle über die Reeperbahn. Vielerorts ging es plötzlich plüschig statt brachial zu. Noch ohne „Ex“ davor hing selbst im Punkerschuppen Sparr ein Gemälde voll röhrender Hirsche überm Troddel-Sofa. Es war die Zeit der Geweihe und Flora-Soft-T-Shirts.

Nach dem verlorenen Jahrzehnt blutiger Bandenkriege und konstanter Vernachlässigung wurde St. Pauli stellenweise behaglich, im Tiefenrausch vertont durch einen Sound, der dem zackigen Acid die Kanten abschliff und das Gemüt eher umschmeicheln als aufwühlen wollte. Anfang der Neunziger wurde er dann zusehends ergänzt vom damals noch independenteren HipHop, der im Tiefenrausch ein bedeutsames Refugium vorfand und Hamburg für kurze Zeit zu einem Kristallisationspunkt des europäischen Sprechgesangs machte.

Wo es jetzt streng nach Geld und Kaffeekapseln riecht, roch es noch strenger nach Hopfen und Malz.
Jan Freitag

Das war natürlich wie so oft im Rotlichtbereich ein Stück weit Tarnung der vorherrschenden Mehrheitskultur, die auch hier aus den Boxen drang. Aber man ließ sich davon nur zu gerne blenden. Unterstützt übrigens durch allerlei quietschbunte Pillen und Mischgetränke seltsamer Farbgebung von altrosa bis frühlingsgrün, die ihre Wirkung gern durch angelehnte Hintertüren entfaltet haben. Schon deshalb verließ man den Laden selten vorm Morgengrauen – um aus dem glitzernden Ozean (über einen Umweg zum angrenzenden Gun Club mit dem schnellsten Kicker der Stadt) sediert ins Brackwasser der Nachbarschaft gespült zu werden.

Die Querungen der Talstraße Richtung Hafen waren schließlich noch fest im Griff von Prostitution und Anwohnerparken. Dort, wo die Gentrifizierung bald darauf eine Schneise der Aufwertung ins Quartier trieb, lebten und arbeiten seinerzeit echte Menschen mit gewachsener Verwurzelung. Statt eines Hotels mit imperialem Namen überm Kupferportal im Albert-Speer-Gedächtnis-Stil erhob sich braukesselgesäumt das stilisierte Betonbierglas der Astra-Zentrale in den Himmel. Wo es jetzt streng nach Geld und Kaffeekapseln riecht, roch es noch strenger nach Hopfen und Malz. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet hier der Punkrock ein Zuhause fand.

Chichi war gestern

Schon in den letzten Zuckungen des Tiefenrauschs vor der Jahrtausendwende mischte sich montags zwischen Breakbeats und House ein entfesselter Ska-Abend. Und als dann endgültig Schluss war mit Elektronik, zeigten schon die Namen der Nachfolger von Skorbut bis Kraken, wo hier musikalisch der Hammer hing.

Der aktuelle Pächter namens Menschenzoo ist ein beharrliches Relikt dieser Punkkultur. Man taucht allerdings nicht mehr wirklich ein, der Kellerabgang wurde zugemauert, die Fische fehlen sowieso. Chichi war gestern. Und dass die geschossarme Häuserzeile drüber dem Renditewahn zum Opfer fällt wie die Brauerei gegenüber, ist keine Frage des „ob“, allenfalls des „wann“. Es verschwände ein Stück Aufbruchkultur vorm Zeitalter der Stahlverglasung. Und damit die steinerne Erinnerung an Kurzurlaube in einem Club, der zwischen damals und heute stand wie kaum ein anderer. Blubb blubb.

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