Selbsttest: 12 Stunden Europa Passage an einem Weihnachtsshopping-Samstag
Juhu, Weihnachten kriecht in riesigen Schritten auf uns zu. Wir haben nur noch wenige Tage Zeit, um unser hart erarbeitetes Geld für sinnlosen Schrott auszugeben! Also lasst uns nochmal alles geben, um unter der Last unserer Weihnachtseinkäufe zusammenzubrechen.
Es soll sie wirklich geben, diese Menschen, die wie Helden aus alten Zeiten die Quarrees und Mercados der Stadt betreten. Doch der Großteil scheut die Einkaufszentren. Doch ich nicht! Heute werde ich in die Liga der Shopping-Helden aufsteigen. Seit der Morgendämmerung stehe ich vor den Toren der Europa Passage. Die Tugenden des gemeinen Helden – Kraft, Ausdauer, Mut – besitze ich allesamt nicht, aber pff... wer benötigt für 12 Stunden in der Europa Passage schon Ausdauer? Es folgt: Weihnachtsshoppen in fünf Akten, ein 12-Stunden-Selbstversuch in der Europa-Passage.
Erster Akt oder die pompöse Rolltreppenouvertüre
Ich bin drin. Europa Passage, hallöchen! Da stehe ich, ich armer Tor, die Finger um Handtasche und Portemonnaie gekrallt, jene Schwerter und Harnische der Moderne. Auf meinem altmodischen Einkaufszettel steht ein einziger Punkt: „Papa – Dumont-Reiseatlas Porto oder Lissabon“.
Der erste Akt dient für gewöhnlich der Vorstellung der Protagonisten. Also schaue ich mich verstohlen um. Gedanke Nummer 1: Die Farbe des Winters ist wie in den letzten 101 Wintern schwarz; schwarz mit grauen Akzenten, ins kraftvolle Mausgrau gehend hin zu einem matten Taupe. Die Hautfarbe der Saison liegt unangefochten bei blass-hanseatisch, nur vereinzelt von einem solariumgetönten Orange durchdrungen. Gedanke Nummer 2: Ist gerade flötengegangen, als sich eine Handvoll giggelnder Teenies an mir vorbeiquetscht hat.
Plötzlich schwimme ich inmitten einer kaufmotivierten Frauen-Gruppe, die freiwillig aus Ahrensburg herangereist ist, und folge Männern im Businessanzug und Silberfüchsen im typischen Pöseldorfer Hanse-Senioren-Look, bis ich auf eine Samstagsausflugfamilie samt brüllendem Oskar und kreischender Pauline pralle. Seien wir ehrlich: In die Europa Passage verläuft sich jeder einmal und sei es, „um nur fix bei IDEE das eine Tonpapier zu kaufen, das es halt sonst nirgendwo gibt“. Ha! Seid ihr da gerade nicht an mir vorbeigelaufen?
Drama, baby, das ganz große Drama kündigt sich nach wenigen Sätzen –pardon Schritten- an. Denn die Menschenmasse fließt zäh vom Drehkreuz ins Foyer. Meine Hand zerquetscht die mickrige Shopping-Liste mit der Faust, mein eigener Wille muss vorübergehend zugunsten des großen Ganzen zurückstecken, jetzt drosseln wir alle einmal bitte das Tempo. Mein Vorhaben, das Schauspiel von einem ruhigen Plätzchen zu betrachten, zerschellt bereits am Rückstau vor der Rolltreppe. Für ein antikes Schauspiel ist in der Europa Passage nun alles gegeben: Menschen, viele, viele, noch mehr Menschen und ein sich bereits am Eingang anbahnendes Stau-Drama.
Zweiter Akt: Ich bin ein Lemming, mir ist alles egal
Die klügste Devise beim Weihnachtsshoppen lautet: Ich bin ein Lemming, immer der Masse hinterher. Irgendwo zwischen Panama Jack-Stiefeln für 190,00 € und den Cox Chelsea-Boots für 89,95 € finde ich eine halbwegs ruhige Ecke im GOERTZ. Shazam versagt trotzdem. Eine Popnummer folgt der anderen und anhand spärlicher Textfetzen höre ich heraus, dass gerade „Have Yourself A Merry Little Christmas“ läuft. Ahja. Werde ich haben, mein „Merry Little Christmas“. Allerdings wohl ohne GOERTZ-Stiefeletten.
Ich werde in der Masse zurückgeworfen und lande wie bei Monopoly zurück auf Start, im H&M am Eingang. Hier gibt’s nur Kleidung für Männer, so dass sich die Zahl der herzrasenden Einkäuferinnen schlagartig um mindestens 60 Prozent reduziert. Plötzlich der Geistesblitz, einer von vielen schlechten an diesem Tag: Wieso für die Familie nicht die Pullover aus Kaschmirmix zu 149 Euro das Stück kaufen? Nähme ich davon gleich drei, wäre der Vierte kostenlos.
Kostenlos klingt gut. In der Europa Passage vergesse ich sowieso alles, was ich je über orientalische Basare gelernt habe. Wer viel sparen will, muss natürlich viel einkaufen. Aus den Boxen tönt „Always me. I do anything for me”. Was wollte ich hier eigentlich? Tally Weijl wartet schon auf mich und Gwen Stefani singt von „Last Christmas“.
Die Angebotsschilder lassen mich kurze Zeit glauben, dass hier das wahrhaft allerallerletzte Weihnachtsfest angebrochen ist: Dreißig Prozent auf alles. Außer natürlich auf die Artikel im vorderen Teil des Ladens und die Sonderangebote, die sowieso schon um die Hälfte heraufgesetzt wurden.
Bei KULT lautet das gleiche Motto: Kaufe, was du schon immer gebraucht hast, obwohl du es noch gar nicht wusstest. An Weihnachten wirst du es nämlich noch weniger benötigen. Und wenn es dann nicht unter der Tanne liegt, wirst du es bereuen. Wenn du Schwierigkeiten mit Zahlen hast, lautet der Geheimtipp sowieso: Nimm 2, kaufe 3! Weil’s gerade so besinnlich ist, fahre ich jetzt mit der Rolltreppe in den nächsten Stock.
Dritter Akt oder wie im Foodhimmel auf Erden
Ich weiß nicht wie, ich weiß nicht wann, ich weiß nicht warum. Einen Blackout und drei Stunden später bin ich im zweiten Obergeschoss angelangt. Hier ist der Höhepunkt: der Foodhimmel auf Erden! Denn nur die ganz Harten kommen auch ganz nach oben, in den Futter-Sky. Doch einmal den Olymp erklommen, fragt sich der Hardcore-Shopper: Was will ein Mensch mehr? Wie die Weihnachts-Truthähne kurz vor der Schlachtung, eng auf den Kunstledersitzen aneinandergeschmiegt, erschöpft und glücklich vom Kaufrauschmarathon, verschlingen hier die Helden der Europa Passage ihr Mittagsmahl.
Schon 13 Uhr? Kinder, wie die Zeit vergeht. Eigentlich könnte das Abenteuer hier bereits zu Ende sein. Menschen stopfen sich Vincents Vegane Burger ins Maul oder stochern mit Stäbchen in ihrem Sushi herum. Um sie herum liegen überall Einkaufstüten verteilt. Wer’s noch trendiger möchte, kann sich eine Etage drunter beim clean eating niederlassen. Ich frage mich, ob das Phänomen des clean shoppings bereits erfunden wurde. Da fällt mir auf: Ich habe Papas Dumont-Reiseatlas vergessen. Vollkommen leer ausgehen in der Europa Passage – die Blöße kann ich mir nicht geben. Schnell, schnell, die Abwärtsspirale hat begonnen.
Vierter Akt oder Abwärts-Shoppen für Dummies
Es geht ans Von-oben-nach-unten-zurück-Shoppen. Zielstrebig steuere ich den Thalia-Shop an. Ein bisschen boxen, ein bisschen schubsen, das gehört zum besinnlichen Weihnachtseinkauf dazu, wie das jährlich glatt gebügelte Lametta auf Opas Baum. Im Thalia-Shop blüht mein Herz kurzzeitig auf. So viele Menschen, die also doch noch lesen. Plötzlich höre ich es draußen rumoren. Jingle Bells, Jingle Bells, war da nicht etwas? Draußen ist eine Weihnachtsaktion zugange und ich krieche neugierig wieder aus dem Laden. Hin und wieder muss die Spezies Käufer in der Europa Passage halt doch aus dem Konsum gerissen werden.
Wenn man mit tausenden weiteren Shoppingwütigen Weihnachtslieder singt, weiß man wieder, dass es hier eigentlich um die stille Nacht geht. Ach so ein Zufall aber auch, jetzt bin ich aus Versehen nochmal in einem Klamottenladen gestrandet. Erschöpft setze ich mich in eine dieser Sitzecken, die zum Männerparken konzipiert wurden. Hier finde ich Ruhe und inneren Frie... Britney Spears fängt an, “Santa, Can You Hear Me?” zu johlen.
Dann wird es eben Zeit für das Zwischenspiel. Der Kaffeeladen ohne richtigen Kaffee gehört zu einer richtigen Weihnachts-Shopping-(Tor)tour einfach dazu. Ein kleines schnuckeliges Café mit selbstgebackenem Kuchen? Das ist doch was für Weicheier. Die Jazz Tunes laden zum Verweilen ein. Mensch, was für ein Ruhepol in der Hektik. Vor der Glasfront fühlt man sich doch gleich wie im Affengehege. Ein weihnachtliches Affengehege! Fast bekomme ich Lust, mich vor meinem nicht vorhandenen MacBook mit einem "Toffee Nut Latte" mit Haselnuss Topping wieder in Schwung zu bringen.
Doch plötzlich packen mich aus unverständlichen Gründen die prähistorischen Fluchtreflexe und ich renne im Zickack aus dem Kaffee-Tempel und seinen Moccha-Frappuccino-Flavor-Versuchungen. Verfolgt werde ich nur von sphärischen Keyboard-Liegeakkorde und einem synthetisch schlecht reproduzierten Bläsersatz.
Fünfter Akt oder wie ich während des Finales vergaß, weshalb ich da war
Finale. Draußen ist der Himmel schon längst pechschwarz. In der Musik wird das Finale ja meist wild, schnell und sogar die Blechbläser dürfen plötzlich mitspielen, wenn sie rechtzeitig aufwachen. Im Theater entscheidet sich nun, ob der Mensch die ganze Zeit auf eine Katastrophe zugesteuert ist oder ob ihm eine glückliche Auflösung bevorsteht. Ich bin im Untergeschoss, schaue in die Gesichter der Menschen und merke, dass es auch beim Shoppen zwei Finale-Optionen geben muss.
Das Finale für Softies: Auf den Bänken sitzen eine Vielzahl von apathisch dreinblickenden Frauen und Männern. Sie sitzen und starren. Mit ein bisschen Glück schauen sie mit leerem Blick in die Menge. Die meisten glubschen allerdings auf ihre Füße. Das Finale für Shopping-Profis sieht erquicklicher aus: Es gibt wirklich Menschen, die die Europa Passage euphorisiert und strahlend verlassen. Der Kaufspaß ist für sie am 24. Dezember längst nicht vorbei, er wird nur dem Kind in der Krippe zuliebe für drei Tage unterbrochen. Am 27ten wartet für sie schon der After Christmas Sale, der wiederum nur ein Vorbote ist für den Super Duper Sale im Januar.
Und ich? Da stehe ich, ich armer Tor. Nach 12 Stunden in der Europa Passage blicke ich müde auf eine Anzeige: „Bald bis 24 Uhr shoppen!“ Bloß weg hier. Während ich in die U-Bahn steige, merke ich, dass ich Papas Dumont-Reiseatlas vergessen habe. Nochmal zurück? Schweißperlen kullern meinen Rücken herunter. Wer möchte schon einen Reiseatlas? Papa, dieses Jahr gibt’s dann doch wieder ein Ticket für ein Volleyball-Spiel. War Weihnachten nicht schon letztes Jahr?